
PISA 2006: Lesekompetenz im internationalen Vergleich |
04.01.2008 |
Ausgewählte Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie
Am 4. Dezember 2007 veröffentlichte das PISA-Konsortium Deutschland unter Federführung des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) eine Zusammenfassung der Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie PISA 2006.
Mit freundlicher Genehmigung des IPN veröffentlichen wir nachfolgend die Abschnitte aus der Zusammenfassung, die die Ergebnisse der Untersuchungen zur Lesekompetenz betreffen. Die vollständige Zusammenfassung der Ergebnisse von PISA 2006 steht auf der Internetseite des PISA-Konsortiums zum Download zur Verfügung.
PISA 2006: Wichtige Ergebnisse im Überblick
Die OECD startete im Jahr 2000 das Programme for International Student Assessment (PISA). Im Abstand von drei Jahren erhalten seitdem weltweit fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler Testaufgaben, die ihre Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften erfassen. Schüler- und Schulfragebögen informieren über Merkmale der Elternhäuser und Schulen, über den Unterricht sowie über Einstellungen und Aktivitäten der Jugendlichen. Das Programm untersucht, inwieweit es in den teilnehmenden Staaten und ihren unterschiedlichen Bildungssystemen gelingt, junge Menschen auf die Anforderungen der Wissensgesellschaft und auf das Lernen über die Lebensspanne vorzubereiten. Mit den regelmäßig untersuchten Domänen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften deckt PISA nicht alle Fähigkeitsbereiche ab, erfasst aber Kompetenzen, denen heute eine Schlüsselstellung für die gesellschaftliche Teilhabe und Weiterentwicklung zugesprochen werden kann.
Die Auftraggeber, das sind die OECD-Staaten und weitere interessierte Staaten (sogenannte Partnerstaaten), erwarten von dem internationalen Vergleich empirisch fundiertes Steuerungswissen. Die teilnehmenden Staaten möchten von PISA zum Beispiel erfahren, wo sie im internationalen Vergleich stehen, welche Bildungsergebnisse andere Staaten erreichen und unter welchen Bedingungen das geschieht, wie sich Bildungssysteme im Verlauf der Zeit entwickeln und vor allem auf ergriffene Maßnahmen reagieren. Besonderes Interesse findet dabei auch die Frage, inwieweit es in den Staaten gelingt, jungen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft vergleichbare Chancen für die Entwicklung ihrer Kompetenzen zu geben.
PISA 2006 repräsentiert nun die dritte Runde des OECD-Programms, das für jede Erhebung einen inhaltlichen Schwerpunkt vorsieht. Bei PISA 2000 stand die Lesekompetenz im Vordergrund und erhielt dementsprechend den größten Anteil der Testzeit. Nachdem bei PISA 2003 die Mathematik im Zentrum war, sind bei PISA 2006 die Naturwissenschaften das Hauptgebiet. Bei jeder Erhebungsrunde ist jedoch auch für die Nebengebiete ausreichend Testzeit vorgesehen, um aussagekräftige Vergleiche aller Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern zwischen den Staaten und über die Zeit vornehmen zu können. Für diesen Zweck müssen die Tests auf vergleichbaren Konzeptionen und Skalierungen beruhen. Außerdem benötigt man einen Pool von geheim gehaltenen Aufgaben, um die Testergebnisse der verschiedenen Erhebungsrunden aufeinander beziehen zu können.
Vergleichbarkeit bedeutet weiterhin, dass die Stichproben in allen teilnehmenden Staaten auf einheitliche Weise definiert und mit den geeigneten statistischen Verfahren gezogen werden. PISA definiert bewusst die Altersgruppe der Fünfzehnjährigen als Zielpopulation. Auf diese Weise kann sehr gut abgeschätzt werden, wie in den verschiedenen Bildungssystemen die Schul- und Lebenszeit für eine erfolgreiche Kompetenzentwicklung genutzt wird. Erfolgreiche Kompetenzentwicklung bedeutet bei PISA, das Wissen flexibel auf bedeutsame Problemstellungen anwenden zu können. Die Aufgaben- und Problemstellungen erfassen grundlegende und anschlussfähige Kompetenzen. Sie unterscheiden sich von klassischen Prüfungen an der Schule, weil sie nicht kurzfristig eingeprägten Stoff abfragen, sondern das durchdrungene und grundlegende fachliche Verständnis erfassen. Diese Ausrichtung gestattet internationale Vergleiche von Bildungsergebnissen, die auch dann fair sind, wenn die Curricula in den einzelnen Staaten unterschiedlich akzentuiert sind.
Zeitgleich mit dem internationalen Bericht der OECD erscheint der Bericht des PISAKonsortiums Deutschland, der hier kurz zusammengefasst wird. Auch unser Bericht informiert über die wichtigsten Ergebnisse des internationalen Vergleichs, kommentiert diese jedoch speziell aus deutscher Perspektive. Während der „Initial Report“ der OECD Stück um Stück Ergebnisse der Erhebungen darstellt, haben wir unseren Bericht stärker problemorientiert angelegt und einige Fragestellungen aufgegriffen, die international bis jetzt noch nicht untersucht wurden. Somit beruht der vorliegende Bericht zu einem großen Teil auf vertiefenden und ergänzenden Analysen, mit denen die Ergebnisse für Deutschland besser eingeordnet und interpretiert werden können.
Die Anlage der Studie: Einige Daten
Neben den 30 OECD-Staaten beteiligten sich weitere 27 Partnerstaaten an PISA 2006. Das seit dem Jahr 2000 wachsende internationale Interesse an PISA spricht für die Qualität und die wahrgenommene Bedeutung dieses Erhebungsprogramms.
Bei PISA 2006 erfüllten alle OECD-Staaten die verbindlichen Anforderungen der Stichprobenziehung und Testdurchführung; die Ergebnisse können somit für alle Staaten berichtet werden. International nahmen in den 57 Staaten circa 400 000 per Zufall ausgewählte fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler an den Tests teil.
In Deutschland wurden für den internationalen Vergleich Schülerinnen und Schüler aus 225 Schulen getestet. Die Ausschöpfung der Schulstichprobe betrug 100 Prozent. An diesen Schulen nahmen insgesamt 4 891 fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler am Test für den internationalen Vergleich teil. Die Ausschöpfungsquote der internationalen Stichprobe lag in Deutschland auf der Schülerebene bei 92.3 Prozent. Trotz der sehr guten Ausschöpfung der gezogenen Zufallsstichprobe wurde in Deutschland durch Schulnotenvergleiche eine mögliche selektive Testbeteiligung überprüft. Es wurden keine Hinweise auf eine Verzerrung der Stichprobe gefunden.
Die Erhebungen wurden in Deutschland im Zeitraum vom 28. April bis 29. Mai 2006 an den Schulen unter Aufsicht geschulter Testleiterinnen und -leiter durchgeführt. Die reine Testzeit betrug 120 Minuten; im Anschluss daran waren 50 Minuten für die Bearbeitung des Schülerfragebogens vorgesehen. Es wurden 13 Testhefte eingesetzt, in denen systematisch Aufgabenblöcke rotiert wurden. Mit Hilfe dieses Multi-Matrix-Designs konnte insgesamt Aufgabenmaterial für 390 Minuten Testzeit vorgegeben werden. Alleine für das Hauptgebiet der Naturwissenschaften stand Aufgabenmaterial für eine Testzeit von 210 Minuten zur Verfügung. Dieses Testheftdesign erlaubt somit eine relativ umfassende Untersuchung der Kompetenzbereiche, verlangt aber komplexe statistische Auswertungsverfahren.
Auch bei PISA 2006 wurde in Deutschland die Möglichkeit genutzt, die international verbindliche Stichprobe zu erweitern und das Erhebungsprogramm anzureichern. Um aussagekräftige Vergleiche zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland durchführen zu können, wurde die Stichprobe um circa 1 300 zusätzliche Schulen aufgestockt. Der Bericht über die Ergebnisse des Ländervergleichs in Deutschland wird im vierten Quartal 2008 publiziert werden. In Deutschland wurde darüber hinaus die internationale Stichprobe durch die Ziehung kompletter Klassen der 9. Jahrgangsstufe ergänzt. Diese Stichprobe hatte an einem zweiten Testtag umfangreiche Mathematikaufgaben zu bearbeiten.An dieser Stichprobe erfolgte damit die Normierung von Aufgaben, mit denen überprüft werden kann, inwieweit die Schülerinnen und Schüler die Bildungsstandards der Mathematik für den Mittleren Abschluss erreichen.
Die Durchführung von PISA 2006 in Deutschland mit diesen Zusatzstudien erfolgte im Auftrag der Kultusministerkonferenz nach einer Ausschreibung. Das PISA-Konsortium Deutschland unter Federführung des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) hatte das nationale Projektmanagement inne. Für die internationale Koordinierung zeichnete das Sekretariat der OECD verantwortlich; die Vorbereitung und Durchführung der Studie oblag international ebenfalls einem Konsortium unter Federführung des Australian Council for Educational Research (ACER).
Lesekompetenz im internationalen Vergleich
Die Lesekompetenz war bei PISA 2006 eines der Nebengebiete, das mit einer kleinen Anzahl von Aufgaben getestet wurde. Die Testaufgaben entstammen dem geheim gehaltenen Aufgabenpool, der bereits für PISA 2000 entwickelt worden war.
Die Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichen beim aktuellen Test 495 Punkte und liegen damit im Bereich des OECD-Durchschnitts (vgl. Abbildung). Der OECD-Mittelwert beträgt bei PISA 2006 nur mehr 492 Punkte. Die Jugendlichen in den beiden Staaten an der Spitze der Tabelle, Korea (556 Punkte) und Finnland (547 Punkte), überragen mit ihrer Lesekompetenz auch die Schülerinnen und Schüler weiterer Staaten, die über dem OECD-Durchschnitt liegen. Nach wie vor zeichnen sich im Vergleich der OECD-Staaten sehr unterschiedliche Streuungsbreiten ab. In Deutschland ist die Unterschiedlichkeit der Leseleistungen am größten (mit einer Standardabweichung von 112 Punkten); Korea und Finnland wiederum erreichen ein Spitzenniveau der Lesekompetenz bei sehr kleinen durchschnittlichen Streuungen um den Mittelwert (88 bzw. 81 Punkte).
Nach wie vor erreichen Jungen (in allen Staaten und so auch in Deutschland) deutlich schlechtere Ergebnisse im Lesetest als Mädchen.
Im OECD-Durchschnitt beträgt der Anteil von Jugendlichen auf oder unter der ersten Kompetenzstufe im Lesen 20.1 Prozent; in Deutschland ist dieser Anteil bei 20 Prozent. Auf der obersten Kompetenzstufe sind 9.9 Prozent der Jugendlichen in Deutschland, der entsprechende OECD-Durchschnitt liegt bei 8.6 Prozent.
Seit PISA 2000 hat sich die Leseleistung in Deutschland um 11 Punkte verbessert. Größere Steigerungen der Lesekompetenz in diesem Zeitraum sind nur für Korea und Polen zu verzeichnen. In sieben Staaten weisen die aktuellen Testergebnisse auf erhebliche (signifikante) Abnahmen der Lesekompetenz hin (Spanien, Japan, Island, Norwegen, Australien, Frankreich, Italien).
Hervorzuheben ist, dass die für Deutschland erkennbare tendenzielle Verbesserung der Lesekompetenz vor allem auch im unteren Leistungsbereich stattgefunden hat. Doch besteht weiter eine große Herausforderung darin, die noch immer beträchtliche Gruppe von schwachen Leserinnen und Lesern systematisch und langfristig zu fördern. Eine konsequente Leseförderung in allen Unterrichtsfächern und Schularten bleibt weiterhin eine große Aufgabe, um deutlichere Kompetenzsteigerungen in den nächsten Jahren erreichen zu können.
Soziale Herkunft und Kompetenz
PISA untersucht regelmäßig den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz. Diese Analysen lassen Rückschlüsse auf die Bildungsgerechtigkeit in den Staaten als auch auf die Ausschöpfung von Humanressourcen zu. Mit PISA 2006 bot sich erstmals in Deutschland die Möglichkeit, auch Veränderungen in den sozialen Disparitäten der Lesekompetenz und der Bildungsbeteiligung über einen Zeitraum von sechs Jahren anhand repräsentativer Stichproben zu untersuchen.
Betrachtet man die Veränderungen in den sozialen Disparitäten seit PISA 2000, dann zeigt sich am Beispiel der Lesekompetenz in Deutschland, dass über PISA 2003 bis PISA 2006 die Steigung des sozialen Gradienten und auch der Kennwert der aufgeklärten Varianz abgenommen haben. Diese Befunde beschreiben also eine Abschwächung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und Kompetenz in Deutschland während der vergangenen sechs Jahre.
Auch die vertiefenden Analysen für Deutschland bestätigen diese Tendenz: Die Abstände zwischen den Kompetenzniveaus von Jugendlichen aus den verschiedenen Sozialschichten (EGP-Klassen) haben sich über die Zeit reduziert. Dennoch sind die verbleibenden Unterschiede in den Kompetenzen weiterhin als hoch zu bezeichnen. So unterscheiden sich in PISA 2006 die mittlere Lesekompetenz von den Jugendlichen der oberen Dienstklasse und die der Schülerinnen und Schüler aus Familien von un- und angelernten Arbeitern noch deutlich (83 Punkte, d. h. mehr als eine Kompetenzstufe).
Auch die vertiefenden Analysen zur Bildungsbeteiligung belegen einerseits weiterhin große Unterschiede in der Gymnasialbeteiligung zwischen den Sozialschichten. Andererseits zeigt sich auch hier ein tendenzieller Rückgang in den sozialen Unterschieden in der Gymnasialbeteiligung und den sekundären Disparitäten. Im Vergleich zu Jugendlichen aus Facharbeiterfamilien liegt die relative Chance, ein Gymnasium anstelle einer Realschule zu besuchen, für Kinder aus der oberen Dienstklasse in PISA 2006 bei 2.7 zu 1. In der gleichen Analyse in PISA 2000 ergab sich noch ein Verhältnis von 4.2 zu 1.
Zusammenfassend lässt sich die Ausprägung der sozialen Disparitäten in den Kompetenzen und in der Bildungsbeteiligung bei Fünfzehnjährigen in Deutschland immer noch als hoch bezeichnen, wenn man sie mit der Situation in anderen OECD-Staaten vergleicht. Dennoch zeigt der Vergleich der Kennwerte in Deutschland zwischen PISA 2000 und 2006, dass sich langfristig die sozialen Disparitäten abschwächen können. Um diesen Prozess fortzusetzen, werden weitere Anstrengungen zur Förderung insbesondere kompetenzschwacher Jugendlicher zu unternehmen sein.
Gesamtschau und Ausblick
Aus deutscher Perspektive sind viele der Befunde aus PISA 2006 bemerkenswert und erfreulich, denn sie lassen positive Veränderungen seit PISA 2003 und insbesondere PISA 2000 erkennen.
Im Bereich der Lesekompetenz zeichnen sich bei PISA 2006 wiederum kleine Verbesserungen ab. Der Mittelwert ist leicht gestiegen, die Anteile von Jugendlichen auf den unteren Kompetenzstufen sind etwas zurückgegangen. Die Lesekompetenz der Jugendlichen in Deutschland liegt im Bereich des OECD-Durchschnitts – aber sie könnte besser sein. Eine verstärkte und systematische Leseförderung ist nach wie vor an deutschen Schulen erforderlich.
Herausgeber: PISA-Konsortium Deutschland
Prof. Dr. Manfred Prenzel, Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften, Kiel (Sprecher)
Prof. Dr. Cordula Artelt, Otto-Friedrich-Universität, Bamberg
Prof. Dr. Jürgen Baumert, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Prof. Dr. Werner Blum, Universität Kassel
Prof. Dr. Marcus Hammann, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. Eckhard Klieme, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt am Main
Prof. Dr. Reinhard Pekrun, Ludwig-Maximilians-Universität München
Unter Mitarbeit von:
Regine Asseburg, Claus H. Carstensen, Barbara Drechsel, Timo Ehmke, Andreas Frey, Katrin Gutzmann, Beate von der Heydt, Carsten Maurischat, Silke Rönnebeck, Katrin Schöps, Kerstin Schütte, Katharina Schwindt, Tina Seidel, Martin Senkbeil, Päivi Taskinen, Oliver Walter und Jörg Wittwer
Publikation:
Prenzel, M., Artelt, C., Baumert, J., Blum, W., Hammann, M., Klieme, E., Pekrun, R. (Hrsg.)
PISA 2006. Die Ergebnissse der dritten internationalen Vergleichsstudie
Waxmann: Münster, 2007, 424 S.
ISBN 978-3-8309-1900-1
19,90 €
Redaktionskontakt: schuster@dipf.de