
Leseanfänger*innen lesen schon selbstständig |
02.02.2023 |
Zur Entwicklung „leseleichter“ Texte mit Hilfe des „Bremer Erstlese-Index“ (BRELIX)
Dass Kinder gerne lesen, ist schon für sich ein wichtiges Ziel der Leseförderung. Darum brauchen bereits Leseanfänger*innen Lektüre, die sie interessiert – und die sie selbstständig bewältigen können. Gerne zu lesen und Erfolg dabei zu haben ist aber auch Voraussetzung dafür, dass Kinder viel lesen. Und nur wer viel liest, trainiert die grundlegenden Lesefertigkeiten intensiv genug, um sie so zu automatisieren, dass die bewusste Aufmerksamkeit auf die inhaltliche Ebene der Texte und damit auf deren Verstehen gerichtet werden kann1.
Schulische Übungen reichen dafür bei weitem nicht aus. Damit die Kinder den Sprung vom Wort- zum Satz- und Textlesen schaffen, brauchen sie also inhaltlich und durch die Illustration attraktive, vor allem aber einfach zu lesende Lektüre. Mit Hilfe des „Bremer Erstlese-Index“ (s. zu den Kriterien und Schwellenwerten Abb. 1) haben wir an fast 500 Beispielen untersucht, wie leseleicht die Bücher tatsächlich sind, die von Schul- und Kinderbuchverlagen für „Erstleser*innen“, „zum Lesenlernen“ oder als „besonders einfach“ angeboten werden2.
Abbildung 1:
Orientierungswerte für die Vereinfachung von Texten für „Erstlese-Bücher“, gestuft nach durchschnittlichen Schwierigkeiten in verschiedenen Dimensionen
Hans Brügelmann & Erika Brinkmann (17.6.2022)
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Leider werden die Bücher der Kinderbuchverlage ihren eigenen Ansprüchen in vieler Hinsicht nicht gerecht: zu viel Text, meist zu kleine Schrift, oft zu lange Sätze – und vor allem zu viele schwierige Wörter. Denn nicht nur die Zahl der Buchstaben bzw. Silben, die in den üblichen Leseindizes wie dem LIX erfasst werden, erschweren Kindern das Lesen. Solange sie Wörter noch lautierend erlesen, bleiben sie auch leicht hängen an seltenen Buchstaben wie <q>, <ß> und den Umlauten <ä>, <ö>, <ü>, an mehrgliedrigen Grapheme wie <ch>, <sch>, <ei> und an Konsonantenhäufungen (vor allem am Silbenanfang) wie in <Knoten>, <prima> oder <Straße>. Abb. 2 zeigt, wie ein angeblich „vereinfachter“ Text für ein*e Leseanfänger*in aussieht:
In unserer Stichprobe von rund 100 als besonders leseleicht ausgewiesenen „Erstlesebüchern“ fanden sich solche Schwierigkeiten im Durchschnitt in jedem zweiten Wort. Wie verschiedene Studien zeigen, verlangsamen sie das Lesen und führen zu deutlich höheren Fehlerquoten3.
Aber was für Alternativen gibt es?
Zum einen kann man versuchen, diese Schwierigkeiten zu vermeiden bzw. ihren Anteil möglichst gering zu halten. Da es kaum Angebote dieser Art gibt, haben wir unter dem Titel „Leseleichte Lesehefte zum Leseanfang“ beispielhaft zwei 6er Sets an Heften entworfen4. Trotz der sprachlichen Einfachheit sollte die Lektüre interessant sein, die Anstrengung des Lesens sollte sich durch einen originellen Plot bzw. über überraschende Wendungen auch inhaltlich lohnen (s. Abb. 3, Auszug aus „Wildes Meer“).
Eine Wort-Bild-Legende vorweg mit den wichtigsten Begriffen erleichtert deren Erlesen – und erzeugt zugleich eine Sinnerwartung, die Neugier weckt und zusätzlich beim Lesen hilft. In den Anforderungen, vor allem der Wortschwierig-keit, entsprechen die Texte den Niveaus 0 bis 1 des BRELIX5.
Eine andere Möglichkeit, das Lesen zu erleichtern, bieten grafische Hilfen zur Strukturierung der Wörter (s. die ersten beiden Bilder in Abb. 3). So auch in den gemeinsam mit Schweizer Kolleg*innen entwickelten Texten für 15 kleine Büchlein6, in denen die mehrgliedrigen Grapheme jeweils durch einen feinen Rahmen zusammengefasst und in denen zusammengesetzte Wörter durch einen Mediopunkt in Sinneinheiten gegliedert werden (s. Abb. 4 aus dem Rätsel-Heft „Schau genau“, Niveau 2).
Zudem ist die Zahl der Wortschwierigkeiten gering gehalten. Mit ihren sorgfältig gestuften Leseanforderungen sind die Texte nach dem BRELIX den Niveaus 1 bis 3 für Anfänger*innen zuzuordnen. Ein Farbwechsel nach Sprechsilben macht nur bei drei- und mehrsilbigen Wörtern Sinn. Die verbreitete Praxis, die Druckfarbe durchgängig von Silbe zu Silbe zu wechseln, bringt dagegen keine Vorteile. Im Gegenteil werden Kinder dazu verführt, abgehackt zu lesen – und die Bedeutung von Wörtern gerät bei einer Gliederung nach Silben leicht aus dem Blick (vgl. z. B. „lau-fen“ vs. „lauf-en“). Die bereits erwähnte Gliederung in sinntragende Einheiten durch den Medio-Punkt bietet zumindest für zusammengesetzte Wörter eine bedenkenswerte Alternative. Dass sich das Bemühen um eine Reduktion der Textanforderungen und besonders der Wortschwierigkeit in der Anfangsphase des selbstständigen Lesens lohnt, zeigen unsere Erfahrungen aus der Erprobung der Büchlein mit 20 Kindern, die besondere Schwierigkeiten beim Lesenlernen hatten. Ihre spontanen Kommentare: „Das war gut zu lesen“, „ganz leicht“, „Kann ich das Buch mit nach Hause nehmen?“, „Das war lustig“, „Das habe ich gern gelesen“, „Darf ich noch ein Buch lesen?“ … Die Unterschiede in den Präferenzen der Kinder haben darüber hinaus bestätigt, wie wichtig es ist, den Kindern die freie Wahl der Lektüre zu ermöglichen – nach inhaltlichem Interessen und nach den Textanforderungen, die sich zutrauen.
Fußnoten:
1 Brügelmann, H., u. a. (2020): Leises und funktionales Lesen stärken! Empirische Studien zeigen: Leseförderung lebt von einem reichen, didaktisch strukturierten Methoden-Repertoire - braucht aber auch eine klare pädagogische Haltung. Download: https://t1p.de/leises-lesen-2
2 Brinkmann, E./ Brügelmann, H. (2023, in Vorb.): Warum die sogenannten „Erstlese“-Bücher eigentlich Zweitlesebücher sind. Bewertung der Leseschwierigkeit des Verlagsangebots mit dem BRELIX. In: Mikota, J./ Schmidt, N. (Hrsg.) (2023, in Vorb.): Erstleseliteratur als vielfältiger Lern- und Erfahrungsort. Kopaed: München.
3 Brügelmann, H./ Brinkmann, E. (2023, in Vorb.): Der „Bremer Erstlese-Index“: Kriterien für „leseleichte Texte“, ihre Begründung und Schwellenwerte für die ersten Lesestufen. In: Mikota, J. / Schmidt, N. (Hrsg.) (2023, in Vorb.): Erstleseliteratur als vielfältiger Lern- und Erfahrungsort. Kopaed: München.
4 Vgl. zum Hintergrund: Brügelmann, H. / Brinkmann, E. (2021): SELBER LESEN LEICHT GEMACHT. Begleitheft zur Reihe Leseleichte Lesehefte zum Leseanfang. Heinevetter: Großhansdorf. Kostenloser Download: https://t1p.de/heinevetter
5 Andere Reihen, die diesem Anspruch zumindest teilweise gerecht werden, sind „Graf Orthos Lesetruhe“ aus dem Rechtschreibwerkstatt-Verlag, die ersten Hefte der Reihe „Lesebaum“ aus dem gleichnamigen Verlag und die *-Texte der digitalen Plattform eKidz (https://www.ekidz.eu).
6 Vgl. zum Hintergrund: Biasio, E., u. a. (2022): „15 Leseleichte Lesebüchlein“. Die Sprachstarken 1. Begleitheft. Klett/ Balmer: Baar. Kostenloser Download: https://t1p.de/balmer-leseleicht
Autor: Dr. Hans Brügelmann
Zur Person:
Hans Brügelmann war bis Februar 2012 Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik und -didaktik an der Universität Siegen. Seit seiner Pensionierung arbeitet Hans Brügelmann als freier Bildungsjournalist und engagiert sich im Grundschulverband e. V.
Redaktionskontakt: anda@dipf.de