Meldung

Ergebnisse der Vorlesestudie 2010

12.11.2010

Vorlesen und Erzählen in Familien mit Migrationshintergrund




Heinrich Kreibich, Dr. Rüdiger Grube, Dr. Simone Ehmig, Dr. Rainer Esser
Heinrich Kreibich, Dr. Rüdiger Grube, Dr. Simone Ehmig, Dr. Rainer Esser
© Stiftung Lesen/Castagnola
Erstmals präsentiert eine Studie Zahlen zum Vorlese- und Erzählverhalten in Familien mit Migrationshintergrund. Anlass ist der bundesweite Vorlesetag am 26. November. Die Hauptakteure stellten die Ergebnisse am 11. November 2010 in Berlin vor: für DIE ZEIT der Geschäftsführer Dr. Rainer Esser, für die Deutsche Bahn der Vorstandsvorsitzende Dr. Rüdiger Grube und für die Stiftung Lesen der Hauptgeschäftsführer Heinrich Kreibich sowie Dr. Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen.

Vorlesen und erzählen ist häufig Muttersache
Familien mit Migrationshintergrund legen ein sehr unterschiedliches Vorleseverhalten an den Tag. In 36 Prozent dieser Familien lesen die Mütter, in 12 Prozent von ihnen die Väter ihren Kindern täglich vor, in jeder achten Familie liest jedoch niemand vor. Das Gleiche gilt für einen zweiten wichtigen Impuls zur Vermittlung von Sprach- und Lesekompetenz: das Erzählen von Geschichten. In 30 Prozent der Familien wird es von der Mutter, in 13 Prozent der Familien vom Vater täglich praktiziert, in fast jeder vierten Familie erzählt allerdings niemand den Kindern Geschichten.

Fakten widersprechen gängigen Vorstellungen
Die repräsentative Studie „Vorlesen und Erzählen in Familien mit Migrationshintergrund“, die Mitglieder der größten Migrantengruppen zu Wort kommen lässt, ist die vierte Untersuchung, mit der die Deutsche Bahn, die Wochenzeitung DIE ZEIT und die Stiftung Lesen das Vorleseverhalten in Deutschland untersuchen. „Viele Fakten widersprechen gängigen Vorstellungen“, erklärt Dr. Simone Ehmig, Leiterin des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen: „Ein großer Familienverbund mit mehreren Generationen in einem Haushalt bedeutet etwa noch lange nicht, dass hier viele Vorlese- und Erzähl-Akteure tätig sind – meist sind es die Mütter, mit Abstrichen die Väter.“ Hinzu komme: Familien aus Regionen mit klassischer mündlicher Erzähltradition verhalten sich sehr unterschiedlich. Eltern mit arabischem Migrationshintergrund zeigen sich im Unterschied zu Eltern mit türkischem Migrationshintergrund sehr aktiv. Ein weiteres Ergebnis der Studie: In Migrantenhaushalten mit muslimischer Prägung spielen religiöse Inhalte zwar eine große, jedoch keine größere Rolle als in christlichen Haushalten.

Laut Studie ist neben dem Bildungsabschluss das Herkunftsland ein wichtiger Vorlese- bzw. Erzähl-Indikator: In Familien aus Osteuropa und Russland, den arabischen Ländern sowie dem ehemaligen Jugoslawien seien beide Traditionen verbreitet, dann folgt West- bzw. Südeuropa. In der größten Migrantengruppe, den Familien aus der Türkei, wird beides am wenigsten praktiziert: Fast die Hälfte der Eltern in dieser Gruppe erzählt nie Geschichten, jedes dritte Elternpaar liest nie vor.

Geschichten können Integrationsmotoren sein
„Geschichten – ob vorgelesen oder erzählt – vermitteln Kindern Sprachfähigkeit, stiften Identität im komplexen Zusammenspiel von Herkunfts- und neuem Heimatland. Sie können regelrechte Integrationsmotoren sein“, erklärt Dr. Rüdiger Grube, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn. Grube: „Nicht wenige Familien mit Migrationshintergrund nutzen offenbar dieses Potenzial – aber noch bleiben zu viele außen vor. Wir müssen dort die Vorlese- und Erzählkultur weiter stärken. Die Deutsche Bahn setzt hier einen Schwerpunkt ihres gesellschaftlichen Engagements.“

Zielgruppenspezifische Impulse setzen
„Die Studienergebnisse zeigen, dass das Vorlese- und Erzählverhalten in Familien mit Migrationshintergrund ausgesprochen unterschiedlich ist“, betont Dr. Rainer Esser, Geschäftsführer DIE ZEIT. Das Etikett „Familie mit Migrationshintergrund“ versperre oft den Blick auf komplexe Lebenswirklichkeiten – und daher für wirksame Maßnahmen: „Bildungspolitisches Schubladendenken ist auch beim Thema Lesen und Vorlesen falsch. Stattdessen müssen zielgruppenspezifische Impulse gesetzt werden. Mit dem bundesweiten Vorlesetag möchten wir diese Impulse noch stärker als bisher setzen.“

Elementare Sprachförderung so früh wie möglich
Heinrich Kreibich, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, zieht das Fazit: „Gerade dort, wo weder Vorlesen noch Erzählen in der familiären Tradition eine Rolle spielen, muss so früh wie möglich angesetzt werden, um junge Eltern zu sensibilisieren. Hier geht es um elementare Sprachförderung in Kooperation mit Kinderärzten sowie vielen anderen Akteuren, auf die wiederum Vorlesemaßnahmen aufbauen – und somit um ein hohes Investment. Es ist aber notwendig – im Interesse aller Menschen, die in Deutschland leben.“

Bundesweiter Vorlesetag am 26. November 2010
Den Höhepunkt der Vorleseaktivitäten bildet auch in diesem Jahr wieder der bundesweite Vorlesetag, der am 26. November 2010 stattfindet. Der siebte bundesweite Vorlesetag kann erneut eine Rekordbeteiligung vorweisen: Rund 9.000 Vorleserinnen und Vorleser engagieren sich rund um dieses Datum in ganz Deutschland, darunter viele Prominente aus Politik, Kultur, Medien und Sport – etwa Richard von Weizsäcker, Bundesministerin Prof. Dr. Annette Schavan, Bundesminister Dr. Philipp Rösler, Bundestagsvizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Franz Müntefering, Renate Künast, Cem Özdemir, Jens Lehmann, Nena, Marietta Slomka und Ranga Yogeshwar.

Der Aktionstag, initiiert von der Stiftung Lesen und DIE ZEIT, gemeinsam mit dem Hauptpartner Deutsche Bahn, folgt der Idee: Jeder, der Spaß am Vorlesen hat, liest an diesem Datum anderen vor – zum Beispiel in Schulen, Kindergärten, Bibliotheken oder Buchhandlungen.

Am bundesweiten Vorlesetag führt die Deutsche Bahn zahlreiche Vorlese-Aktionen durch. Die Höhepunkte bilden ein Vorlese-Kinderfest im DB-Museum Nürnberg mit vielen Prominenten, darunter Bastian Sick, ChrisTine Urspruch und Thomas Sonnenburg, sowie eine S-Bahn-Lesung in Hamburg. Mehr als 200 DB-Mitarbeiter lesen bundesweit in Kindereinrichtungen sowie an besonderen Bahn-Orten vor.
Redakteure und Mitarbeiter der ZEIT beteiligen sich mit einem Vorlese-Vormittag im Hamburger Literaturhaus am bundesweiten Vorlesetag.

Unterstützt wird die Initiative von:
ACADEMIA-PRESS/STUDENTEN-PRESSE Internationale Presseauslieferungs GmbH, Borromäusverein e. V., Bulls Press, Deutscher Bibliotheksverband e. V., Evangelisches Literaturportal e. V., Heilbronner Stimme GmbH & Co. KG, NDR Info, NDR Kultur, Sankt Michaelsbund, Škoda Auto Deutschland GmbH, Studienkreis und SPIESSER.

Weitere Informationen zur Studie sowie zum Bundesweiten Vorlesetag sind im Internet zu finden:
Die Vorlesestudie: www.stiftunglesen.de
Der Bundesweite Vorlesetag: www.vorlesetag.de

Kontakt:
Dr. Simone C. Ehmig
Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen
Römerwall 40
55131 Mainz
Tel.: (06131) 28890-81
E-Mail: simone.ehmig@stiftunglesen.de
www.stiftunglesen.de/forschung


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