
Die Schüler lieben ihre Lesemappen |
17.03.2010 |
Interview mit Projektleiterin Christiane Frauen
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Lesemappen griffbereit im Klassenraum © iqsh |
Sie sind Koordinatorin des größten Leseförderprojekts in Deutschland. Wie ist das Projekt entstanden?
Christiane Frauen: Das Projekt startete 2006 als Antwort auf PISA. Am Anfang stand für uns die Frage: Was unterscheidet einen kompetenten Leser von einem weniger kompetenten Leser? Dazu wurde hier im Haus eine Synopse aus den Forschungsergebnissen zur Lesekompetenz erstellt, hinzu kam der intensive Austausch mit Hauptschullehrkräften, die nah an der Zielgruppe waren. Ziel war eine deutliche Reduzierung der sogenannten Risikogruppe. Als Unterstützung wurden Materialien entwickelt, die sehr ansprechend sind für die Schüler, von den Lehrkräften schnell einsetzbar und für fachfremd Unterrichtende selbst erklärend. So steht etwa den Lehrern ein umfangreicher Materialordner mit themenorientierten Lesetexten und Anregungen zur Förderung der Lesekompetenz zur Verfügung.
Und was zeichnet dieses Projekt aus?
Christiane Frauen: In diesem Projekt werden konsequent die Ressourcen für die Unterstützung derjenigen zur Verfügung gestellt, die wirklich darauf angewiesen sind. Für Schüler also, die ohne diese Förderung keine Chance auf einen Ausbildungsplatz hätten und auch wenig Chance auf gesellschaftliche Teilhabe. Und das funktioniert nur, wenn verschiedene Bausteine ineinandergreifen. Wir wissen beispielsweise, dass die Rolle der Schulleiter und Schulräte besonders wichtig ist. Von dieser Seite haben wir viel Unterstützung erfahren und selbst auch Unterstützung geboten, indem den Schulen seit Projektbeginn externe Berater mit Erfahrungen im Projektmanagement zur Verfügung stehen. Sie unterstützen die Schulleiter bei der Entwicklung von Konzepten, die dazu führen, dass die zusätzlichen Lehrerwochenstunden, die vom Ministerium zugewiesen werden, zielorientiert bei den sogenannten Risikoschülern ankommen. Lehrkräften bieten wir neue Impulse, es ist uns jedoch wichtig, alles, was bisher gut gelaufen ist, zu integrieren.
Wie sieht es mit dem Erfolg von "Lesen macht stark" aus, gibt es Untersuchungen dazu?
Christiane Frauen: Inzwischen liegt bereits der vierte Evaluationsbericht vor. Die wissenschaftliche Begleitung wird im IQSH von Frau Dr. Ramm gemeinsam mit Herrn Prof. Köller (ehemals Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, Berlin, jetzt IPN, Kiel), Herrn Prof. Dr. Möller (Christian-Albrechts-Universität Kiel) durchgeführt. Danach lag der Kompetenzzuwachs im vergangenen Projektjahr bei den Mädchen bei 71 Punkten, bei den Jungen bei 67 Punkten und das liegt deutlich über dem, was sonst bei Schulleistungsuntersuchungen nachweisbar ist. Einzelne Schulen verzeichnen sogar einen Kompetenzzuwachs von 100 Punkten. Wenn man berücksichtigt, dass ein Schuljahr einem Kompetenzzuwachs von 38 Punkten entspricht, dann ist das schon ein unglaublicher Erfolg. Und noch eine Zahl: PISA hat unter anderem belegt, dass 37 % der Sechstklässler nicht zum Vergnügen lesen, in unserem Projekt hingegen machten 15 % der Jugendlichen diese Aussage.
Und wie wird das Projekt vor Ort umgesetzt: im normalen Unterricht oder im Förderunterricht?
Christiane Frauen: Es gibt beide Möglichkeiten. Wir empfehlen, das Projekt mit der ganzen Klasse durchzuführen und dann innerhalb der Klasse zu differenzieren. Nur so kann das tägliche Lesen realisiert werden. Es gibt auch Schulen, die mit Gruppenbildung gute Erfahrungen gemacht haben. Wir wollten aber auf keinen Fall, dass eine Stigmatisierung entsteht, wie: "Die mit der gelben Lesemappe sind die Schwierigen". Es gibt auch Mischformen, eine ganze Klasse macht mit und zusätzlich haben einzelne Schüler eine weitere Förderung. Ich halte eine Doppelbesetzung für das optimale Konzept, um innerhalb der Klasse zu differenzieren und auch um besser diagnostizieren zu können.
Werden die Lehrer beim Diagnostizieren von Ihnen unterstützt?
Christiane Frauen: Wir haben einen dreiteiligen Diagnostikfahrplan entwickelt. Die Schulen starten in der Regel damit, dass sie auf der Basis der Lehrererfahrungen eine grobe Ermittlung der Risikogruppe vornehmen. Nur wenn die Schüler mit verstärktem Unterstützungsbedarf benannt werden, kann eine sinnvolle Maßnahmenplanung erfolgen. Wir geben außerdem einige Impulse zur Erstbeobachtung. Dann geht es weiter mit den standardisierten Lesetests, die wir jeweils im Februar durchführen und dazu kommt dann die Lernprozess begleitende Diagnostik, für die wir Beobachtungsbögen entwickelt haben. Für all dies bieten wir auch zentrale und regionale Fortbildungsveranstaltungen an. In der Diagnostik geht es vor allem darum, den Einzelnen und seinen ganz individuellen Bedarf in den Blick zu nehmen.
Wie hat sich das Projekt seit 2006 entwickelt?
Christiane Frauen: Wir sind 2006 zunächst mit 50 Schulen in den 5. /6. Klassen gestartet und im letzten Jahr hat dann die damalige Ministerin das Projekt für alle weiterführenden Schulen von der 5. bis zur 10. Klasse geöffnet – mit Ausnahme der Gymnasien. Mittlerweile beteiligen sich 214 Schulen. Das bedeutet, wir erreichen rund 40 000 Schüler.
Warum startet diese Leseförderung erst ab Klasse 5 und nicht bereits in der Grundschule?
Christiane Frauen: Die Grundschulen widmen sich seit jeher der Leseförderung. 2006 war es noch so, dass eine systematische Leseförderung in den weiterführenden Schulen nicht selbstverständlich war und oft davon ausgegangen wurde, dass die Lesekompetenzentwicklung nach der Grundschule abgeschlossen sei. PISA hat uns allerdings etwas anderes gezeigt. Inzwischen nehmen wir wahr, dass sich das Bewusstsein deutlich verändert hat und dass die Notwendigkeit für verstärkte Bemühungen in der Sekundarstufe nicht mehr angezweifelt wird. Die Grundschulen zeigen übrigens großes Interesse an einer Beteiligung.
Welche Rolle spielen die Lesemappen?
Christiane Frauen: Die liebevolle Gestaltung ist bereits ein wichtiger Motivationsfaktor. Wir empfehlen den Schulen außerdem, diese Mappen zu feiern, zum Beispiel in einer Übergabeveranstaltung mit einem Rahmenprogramm zur Leseanimation. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Schüler ihre Lesemappen einfach lieben und das Geschenk als ein Stück Wertschätzung erfahren. Sie sind ein wichtiges Instrument zur Individualisierung und Differenzierung.
Und wie nutzen die Schüler die Mappen?
Christiane Frauen: Sie können zum Beispiel unter dem Registerblatt "Lesetexte" Texte ihrer freien Wahl ablegen. Wir empfehlen den Start mit einem Lesewunschzettel, auf dem jeder Schüler seine Themenwünsche eintragen kann. Meistens ist ja das Leseinteresse noch gar nicht so ausgeprägt. Wir bieten deswegen in der Lesemappe Themenkarten, die zunächst visuelle Impulse geben und so das Interesse der Schüler wecken sollen. Dann können sie aus dem Materialordner Texte wählen, auch Texte mitbringen oder auf dem Wunschzettel kennzeichnen, dass sie bei der Suche nach Texten Unterstützung benötigen. Später werden die individuell bearbeiteten Texte unter diesem Registerblatt abgelegt. Daneben gibt es ein Register "Lesewoche", das zur Ritualisierung der Lesezeit anregen soll. Dort tragen die Schüler regelmäßig ein, was sie gelesen haben. Damit wird das Selbstkonzept als Leser entwickelt. Denjenigen, die sich für Nichtleser halten, wird bewusst, dass sie eigentlich doch schon Leser sind, auch wenn es nur die Überschrift der Bildzeitung, die SMS oder das Fernsehprogramm sind. Zum Nachdenken über das Lesen gehört auch die Thematisierung der "Lesebremsen". Gerade schwache Leser benötigen Unterstützung beim Aufbau von Persistenz, dazu gehört das Erlebnis, das eigene Durchhaltevermögen zu steigern, nicht aufzugeben, sich den eigenen Lernbarrieren zu stellen. Nicht zuletzt bietet die Lesemappe Impulse zur systematischen Entwicklung von Lesestrategien. Es ist auch ein toller Effekt, wenn die Schüler am Ende des Schuljahrs sehen, dass der Ordner viel dicker geworden ist. Die Lesemappe sollte allerdings nicht mit nach Hause genommen werden. Wir empfehlen, schöne Regale für die Mappen in die Klassenräume zu stellen.
Sie sprechen immer von Lesetexten, welche Rolle spielen denn Bücher in diesem Projekt?
Christiane Frauen: Das Ziel ist natürlich das Lesen von Büchern. Dafür wurden hier im Haus Lesetagebücher entwickelt, die ebenfalls in der Lesemappe abgeheftet werden. Die Büchereien bieten dazu vor Ort Bücherkisten an. Seit Projektbeginn entwickeln sich in vielen Schulen Schulbibliotheken. Mittlerweile ist das Interesse der Schulen so groß, dass ein Projektmitarbeiter die Schulen bei der Entwicklung von Schulbibliotheken berät.
Und wie geht es weiter?
Christiane Frauen: Wir haben noch viele, viele Ideen und hoffen, dass das Projekt fortgesetzt wird. Ein wichtiges Thema ist die Nachhaltigkeit. Optimierungsmöglichkeiten gibt es auch noch beim Lesen in allen Fächern. Bisher haben sich in erster Linie die Deutschlehrer angesprochen gefühlt, wir wollen gern auch die übrigen Fachlehrer einbinden. Das Projekt wurde bislang jeweils von Jahr zu Jahr verlängert. Momentan warten wir auf die Entscheidung der Politik.
Zur Person:
Christiane Frauen ist seit 2007 Sachgebietsleiterin in der Abteilung Fort- und Weiterbildung im Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein. Als Hauptschullehrerin entwickelte sie gemeinsam mit dem Cornelsen-Verlag die Projektmaterialien für "Lesen macht stark". Sie ist Mitautorin des Lehrwerkes "Doppel-Klick". Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Interkulturelle Bildung und Erziehung und Deutsch als Zweitsprache.
Das Interview wurde von Perspektive: Bildung übernommen.
Die "Lesen macht stark"-Materialien
Lesen macht stark
5.-8. Schuljahr
Ordner mit Schülermaterialien
ISBN 978-3-06-060001-4
Eur (D) 14,95
Lesen macht stark
5.-8. Schuljahr
Ordner mit Lehrermaterialien
Mit Kopiervorlagen
ISBN 978-3-06-060002-1
Eur (D) 36,95
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