Bericht

Das Archiv für Kindertexte

25.03.2009

Ergebnisse sprachschöpferischer Arbeit aus 100 Jahren


Schreibende Grundschulkinder
Schreibende Grundschulkinder
Die These, dass Kindertexte weit mehr sind, als die Produkte kindlicher Schreibübungen, ist nicht neu. Bereits vor etwa 100 Jahren schrieb der Bremer Volksschullehrer Fritz Gansberg über die Aufsätze seiner Schüler: „So können wir lesen und lesen, jedes Blatt ein kleines ausgeprägtes Persönchen – das Ganze aber ein großer Streifzug durch die Welt der Kinder, ein tiefer Einblick in die Natur des kindlichen Geistes.“¹ Mit vielen anderen seiner Kollegen vertrat er die These, dass Kindertexte als kindliche Selbstzeugnisse und Ergebnisse sprachschöpferischer Arbeit zu verstehen sind. In den letzten Jahren sind diese Überlegungen wieder verstärkt rezipiert und eingebettet in progressive schreibdidaktische Konzepte, besonders im Rahmen der Grundschule, berücksichtigt worden.
Um der damit erweiterten Bedeutung kindlicher Schreibprozesse Rechnung zu tragen, wurde am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg unter der Leitung von Prof. Eva Maria Kohl (Lehrstuhl „Deutsche Sprache und ihre Didaktik“) ein Archiv für Kindertexte eingerichtet. Dieses Archiv soll als Ort der Sammlung, Würdigung, Archivierung und Erforschung kindlicher Schreibprodukte dienen.

Sammlung von Kindertexten
Schreiben Kinder eigene Texte, so stehen ihnen mittlerweile verschiedene Möglichkeiten der Präsentation und Veröffentlichung zur Verfügung. Besonders die Institution Schule stellt hier im Rahmen offenen Unterrichts unterschiedliche Angebote bereit: Vorlesestunden, Geschichtenkreise, Wandzeitungen und Elternabende bieten Kindern begrenzte Öffentlichkeiten. In Geschichtenbüchern oder Portfolios werden die Geschichten für eine bestimmte Zeit gesammelt, verlassen aber später mit den Kindern die Schule und werden somit einem weiteren Zugriff entzogen. Im außerschulischen Rahmen bieten Schreibwettbewerbe wie z.B. der Erzählwettbewerb der Kinder-Kunst-Zeitschrift „Der bunte Hund“ oder der jährliche Schreibaufruf des Friedrich-Bödecker-Kreises Sachsen-Anhalt e.V. Kindern Möglichkeiten überregionaler Veröffentlichung. Allerdings handelt es sich auch hier um Spartenangebote, die nicht systematisch vernetzt sind. Im Archiv für Kindertexte sollen alle kindlichen Schreibprodukte – veröffentlichte wie unveröffentlichte – gesammelt werden. Sammlung meint vor dem Hintergrund der dargestellten Situation demnach aber immer auch Sicherung dieses wichtigen Bestandteils von Kinderkultur.

Würdigung kindlicher Schreibprozesse
Durch die Sammlung der Texte soll der zumeist rein funktionsorientierte Blick auf Kindertexte erweitert werden. Mit der Organisation eines zentralen Ortes für Kindertexte geht eine grundsätzliche Anerkennung und Wertschätzung kindlicher Schreibprozesse einher. So kann durch die Arbeit des Archivs kindliches Schreiben aufgewertet, seine Bedeutung als individuelle Selbstäußerung des Kindes unterstrichen und in diesem Zuge auch Motivation gestiftet werden.

Archivierung von Kindertexten
Kindertexte als individuelle Selbstäußerungen eines Kindes tragen ihrem Wesen nach auch die individuelle Handschrift des Kindes. So präsentieren sich Kindertexte nicht als homogenes Genre, sondern vielfältig, vielschichtig und vielgestaltig. Um Zugriffsmöglichkeiten auf die einzelnen Texte zu schaffen, ist eine vorsichtige Strukturierung und Kategorisierung notwendig. Nur so kann der Zugang zu einer großen Anzahl an Texten gesichert und eine Grundlage für ihre systematische Erforschung gelegt werden.

Erforschung von Kindertexten
Wenn Kindertexte als Ich-Botschaften der Kinder verstanden werden, dann stellen sie ein anspruchsvolles Material für unterschiedliche Disziplinen erziehungswissenschaftlicher Forschung dar. Einerseits kann eine interdisziplinär ausgerichtete didaktische Schreibprozessforschung durch die Vielschichtigkeit der Texte maßgeblich angeregt werden. Die Frage nach Eigenart und Eigenwert kindlichen Schreibens ermöglicht u.a. literarästhetische, pädagogische, soziologische, kulturhistorische und anthropologische Betrachtungen.
Aber auch die unterschiedlichsten Richtungen erziehungswissenschaftlicher Kindheitsforschung finden im Archiv geeignetes Forschungsmaterial. Kindertexte als authentische Selbstäußerungen der Kinder ermöglichen eine konsequente Forschung aus kindlicher Perspektive – ein methodologisches Zentralproblem aktueller Kindheitsforschung, glaubt man Friederike Heinzel.² Kindertexte können somit als Material für unterschiedlichste Forschungsvorhaben dienen.

Der Bestand
Das Archiv für Kindertexte beherbergt mittlerweile ca. 80 000 Texte aus 100 Jahren des freien und kreativen Schreibens von Kindern. Angefangen mit Textsammlungen der reformpädagogischen Aufsatzreformbewegung, über Kindertexte aus der Zeit des Nationalsozialismus und Textsammlungen aus beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit, internationalen Texten aus aller Welt bis hin zu aktuellen Texten, die kindliches Leben und Schreiben in gegenwärtigen Lebenssituationen dokumentieren ist ein breites Spektrum an kindlichen Schreibprodukten dort versammelt. Neben vielen Veröffentlichungen liegt auch eine große Zahl unveröffentlichter Texte vor; viele davon im Original.
Neben den unterschiedlichen Primärtexten existiert auch ein umfangreiches Literaturangebot zur didaktischen und pädagogischen Forschung an kindlichen Schreibprozessen und Kindertexten. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Beiträge bietet Ein- und Überblicke zur Forschung an und mit Kindertexten. Projektdokumentationen zeigen, in welchem Rahmen und unter welchen Umständen Kinder zum Phantasieren eigener Texte angeregt werden können.
In enger Verbindung mit dem Archiv steht die Lernwerkstatt des Instituts für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der MLU. Hier treffen sich Kinder regelmäßig, z.B. in der Kreisarbeitsgemeinschaft schreibender Grundschulkinder „Die Schreibspielwiese“ oder punktuell zu Projekten. So bietet das Archiv neben einem historischen auch einen experimentellen Raum, der mit den Möglichkeiten einer praxisorientierten Forschung wiederum auf die Arbeit im Archiv zurückwirken kann.

Sitz und Adresse des Archivs für Kindertexte
Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg
Philosophische Fakultät III/Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik
Franckeplatz 1, Haus 31
06110 Halle/Saale Raum 205
Leitung: Prof. Dr. Eva Maria Kohl

Literatur:
¹ Fritz Gansberg: Produktive Arbeit. Beiträge zur neuen Pädagogik. Leipzig: 1909, S. 47
² vgl. Friederike Heinzel: Methoden und Zugänge der Kindheitsforschung im Überblick. In: Heinzel (Hrsg.): Methoden der Kindheitsforschung. Weinheim & München: 2000, S. 21

Kontakt:
Dr. Michael Ritter
Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg
E-Mail: michael.ritter@paedagogik.uni-halle.de


Redaktionskontakt: schuster@dipf.de