Bericht

Traumziel: In jeder Schule eine Bibliothek

06.11.2008

Multimediale Kultur- und Literaturzentren für Schülerinnen und Schüler


In der Schulbibliothek
In der Schulbibliothek
Foto: Hans Günther Brée
Eine moderne, gut ausgestattete Schulbibliothek kann Ausgangspunkt für Projektunterricht und Gruppenarbeit, ein Ort des kreativen Umgangs mit Literatur, Selbstlernzentrum und nicht zuletzt eine Rückzugsmöglichkeit im hektischen Schulbetrieb sein. Günter Schlamp, Ehrenvorsitzender der LAG Schulbibliotheken in Hessen e.V., schreibt im folgenden Beitrag über einen alten Traum.

Eine Forderung von 1764
Johann Bernhard Basedow, der Bildungsreformer und Gründer des berühmten Philanthropinum in Dessau, sprach 1764 erstmalig von der Notwendigkeit der Schulbibliothek. Es dauerte mehr als 150 Jahre bis in Preußen alle Schulen eine Bücherei besaßen. Der Schulbüchereierlass von 1928 war der Schlussstein.
Dieser Erlass zeigt ein beeindruckend modernes Bild. Er vereinigt den aufklärerischen Impetus neuzeitlicher Bildungsreformer mit der Forderung nach einer ästhetisch anspruchsvollen Lektüre für Kinder und Jugendliche, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts auftauchte. So baute der Freiherr von Rochow, Gutsbesitzer in der Nähe der Stadt Brandenburg, 1773 eine Schule für die Kinder seiner Bauern, in der die Bücherei nicht fehlen durfte. Mit dem Namen Heinrich Wolgasts verbindet sich eine Literaturästhetik, die die frömmelnde, pädagogisierende Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts überwindet und eine emanzipatorische literarische Erziehung ermöglicht. Auch Wolgast betont in seinen Schriften den Wert einer Schulbibliothek. In der Tradition Wolgasts arbeitet heute die „Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur in der GEW“, die Kinder- und Jugendbücher beurteilt und Empfehlungslisten herausgibt.

Der preußische Schulbüchereierlass von 1928
(verkürzte Wiedergabe):

  • Mindestens so viele Bücher wie Schülerinnen und Schüler.
  • In kleinen Schulen wird ein größerer Bestand nötig sein.
  • Im Bestand: Schöngeistige Schriften, Sachlesehefte, Nachschlagebücher, Heimatschrifttum, Bilderbücher; nach Möglichkeit gestaffelt.
  • Vor allem Bücher, die wegen des Preises nicht privat angeschafft werden können.
  • Der Lehrer muss die vorhandenen Bücher genau kennen.
  • In allen Unterrichtsfächern muss auf eine enge Verflechtung mit der Bücherei Bedacht genommen werden.
  • Echtes Vorlesen (nicht nur stückweise von Einzelnen und alle lesen still mit), stilles Lesen, zusammenhängendes Berichten.
  • Empfehlenswert ist eine Büchereistunde.
  • Ältere Schülerinnen und Schüler können zur Mitarbeit herangezogen werden.
  • Zusammenarbeit mit der Volksbücherei: Der Katalog sollte in der Schule sein, der Leiter sollte gelegentlich vor den Schülern sprechen, Büchereibesuche, besondere Geschäftsstunden für Schüler, Berücksichtigung von Wünschen der Schule bei der Anschaffung von Büchern.
  • Der Erlass ist in den Schulkonferenzen zu erörtern.
  • Über die Erfahrungen bei der Durchführung des Erlasses ist bis zum 31.3.1930 an das Ministerium zu berichten.

(Quelle: Die Schulbibliothek. Texte zu ihrer Geschichte und Theorie, hrsg. von Klaus Hohlfeld, Bad Honnef, Bock und Herchen, 1982, S. 156 ff)

Mit Preußen verschwand auch die Idee der Schulbibliothek. Sie tauchte im Nachkriegsdeutschland nur noch sporadisch auf, etwa im Zusammenhang mit der Bildungsreformdiskussion der 60er Jahre. Es blieb im Wesentlichen den Verbänden der Bibliothekare und Bibliothekarinnen überlassen, Schulbibliotheken zu fordern. Aus der Arbeit in den Schulen erwuchs die Forderung nach der Förderung von Schulbibliotheken nicht oder zumindest nicht sehr vernehmlich.

Ist eine Schulbibliothek nicht mehr zeitgemäß?
Mit dem Siegeszug der elektronischen Datenverarbeitung und später des Internets erwartete die Bildungsverwaltung von den Schulen, dass sie in Medienentwicklungsplänen festlegten, wie viele Beamer, Laptops und Drucker sie benötigten, von den Lehrerinnen und Lehrern, welche digitalen Medien sie etwa im Geschichtsunterricht des 7. und Englischunterricht des 10. Schuljahres einzusetzen gedächten.
Das Internet galt als riesige virtuelle Bibliothek, zuletzt kamen Wikis und Weblogs als Instrumente ortloser, virtueller Gruppenarbeit ins Gespräch. Schulbibliothek schien vorgestrig zu sein.

Bemerkenswerterweise aber ist die Schulbibliotheksidee nicht totzukriegen. Wer die privaten International Schools oder die Schulen der Europäischen Union in Deutschland besucht, sieht gut ausgestattete Bibliotheken für jede Schulstufe und ein Mitarbeiterteam, zu dem der EDV-Spezialist gehört. Mit Kollegium und Schulleitung wird intensiv zusammengearbeitet.
Wer das Glück hat, Bildungsreisen ins Ausland zu machen, kommt begeistert zurück, wenn er eine Bibliothek in einem englischen College gesehen hat, die ein ganzes Geschoss im Schulgebäude einnimmt, von morgens bis abends geöffnet und immer voll ist. Ähnlich ist es in einer schwedischen Berufsschule, einem portugiesischen Gymnasium, einer südtiroler Grundschule. Irren die alle oder irren wir?

Barfußbibliotheken in hessischen Grundschulen
Aber auch hierzulande gibt es Schulbibliotheken in den staatlichen Schulen. Nicht immer nach den anspruchsvollen Kriterien der Bibliotheksverbände: Mit bibliothekarischem Fachpersonal, hohen Bestandszahlen, regelmäßigem Etat. Aber es gibt eine „Graswurzelbewegung“. Mütter verhandeln mit Schulverwaltungsämtern wegen der Räume, Informatiker stellen im Computerraum gedruckte Wörterbücher und Lexika auf.
Leseforscher/innen staunten nicht schlecht, als sie bei der Untersuchung der Lesekompetenz von Grundschülerinnen und -schülern nebenbei feststellten, dass jede zweite hessische Grundschule eine „Barfußbibliothek“ besitzt, also keine den internationalen Standards entsprechende Schulbibliothek, aber eine, in der Mütter vorlesen, die von den Klassen selbst hergestellte Fibeln und „Bücher“ den Mitschülern zugänglich machen, die hoch Motivierte und schneller Lernende  bei der Suche nach mehr Lehrstoff beraten, die den Migrantenkindern beim Lesenlernen und Spracherwerb helfen.

Renaissance für Schulbibliotheken
Zwei schulpolitische Trends sind es, die den Schulbibliotheken zur Renaissance verhelfen: Ganztagsschule und Autonomie der Einzelschule.
Die Ganztagsschule macht es notwendig, Schülerinnen und Schüler, die jetzt noch mehr Zeit in der Schule verbringen (müssen), sinnvoll zu beschäftigen. Da reichen Tischtennisplatte und Mensa nicht aus. Gerade die Leseförderung kann von Schulbibliotheken in Ganztagsschulen profitieren: Vorlesen in der Mittagspause, Lese- oder Literaturclub, Buchpräsentationen, „Podcast-Tankstelle“ (Computer zum Herunterladen von Audiodateien) mit Buchvorstellungen von Mitschüler/innen.
Schulbibliothek bedeutet eine Rückzugsmöglichkeit im hektischen Schulbetrieb: Hartmut von Hentig fragte einmal: „Wo gibt es in der Schule Orte, die zur Stille einladen?“
Wo kann man besser Hausaufgabenbetreuung durchführen als in einer multimedialen Schulbibliothek, in der Atlanten, Wörterbücher, Schulbücher, Lexika und Lernprogramme in Reichweite sind? Und noch einmal sei die Podcast-Tankstelle erwähnt: als Lernarchiv mit Wissensangeboten, versäumten Lektionen und Schülerreferaten.

Möglichkeiten der autonomen Schule
In der autonomen Schule (auch wenn es sich in der Staatsschule immer nur um Teilautonomie handeln kann) hat die Schulleitung die Möglichkeit, entsprechend der im Schulprogramm festgelegten Ziele personelle und finanzielle Entscheidungen zu treffen, die in der hierarchischen Schulverwaltung alter Art oberhalb der Schule getroffen wurden: Personal für die Schulbibliothek, Ausstattung, curriculare Schwerpunkte, in der die Bibliothek eine Rolle spielt:, Lern- und Arbeitstechniken, Lese-, Medien- und Recherchekompetenz, Fremdsprachenlernen, Begabtenförderung. Wenn Schulleitung und Kollegium es wollen, kann es eine moderne, multimediale Schulbibliothek als Informations- und Kulturzentrum geben.
Als Visitenkarte der Schule tauchen Schulbibliotheken zunehmend auf den Schul-Homepages auf. Spätestens wenn Eltern danach fragen, reagieren Schulleitungen.

Mit den Möglichkeiten der autonomen Schule kann die in Deutschland fehlende gesetzliche Regelung für Schulbibliotheken umgangen werden. Die Bundesländer sind nur für die Lehrer/innen und die Curricula zuständig. Die Schulträger, Landkreise und kreisfreie Städte, sind verpflichtet, Klassenräume und Turnhallen zu bauen. Ob sie Schulbibliotheken bauen oder nicht, bleibt ihnen überlassen.

Öffentliche Bibliotheken als Supportzentren
Bibliotheksverbände propagieren neuerdings die öffentliche Bibliothek als Bildungspartner. Dort sollen Schüler/innen und Schüler das Suchen lernen und Freude am Lesen finden. Staat und Kommunen sind erleichtert, sehen sie doch darin ein Alibi, sich noch weniger um Schulbibliotheken zu kümmern. In der Sache ist es wenig einleuchtend: Wie sollen Millionen Schüler/innen im Rahmen der gegebenen Öffnungszeiten personell unterbesetzte und räumlich selten darauf eingerichtete Bibliotheken in entfernten Kreis- und Mittelstädten als regelmäßige Lernorte nutzen können?
Bibliotheksfachliches Knowhow dagegen wird in Schulbibliotheken gebraucht. Öffentliche Bibliotheken und ihre Fachleute würden als Supportzentren für die Schulbibliotheken eine wichtige Rolle spielen, nicht aber als Ersatz für diese. Dass Schüler, die in ihrem Schulalltag eine täglich geöffnete Bibliothek kennen gelernt haben, die intensivsten Nutzer von öffentlichen Bibliotheken werden, hat sich herumgesprochen.

Ein Kultur- und Literaturzentrum mitten in der Schule
In der Schulbibliothek geht es um Schule, weniger um Bibliothek. Richtig verstanden ist sie keine Ergänzung des Unterrichts am Rande der Schule, im Keller oder unterm Dach. Sie ist Kultur- und Literaturzentrum, Ausgangspunkt von Projektunterricht und Gruppenarbeit, Ort des Lernens mit verschiedenen Sinnen, des kreativen Umgangs mit Kinder- und Jugendliteratur (anstelle der Lektüre von Klassensätzen der 70er Jahre), zudem Selbstlernzentrum für Schülerinnen und Schüler, die mehr lernen und leisten wollen.

Es geht in der Schule um Bildung, nicht um Surfen auf dem Meer der Information. Daher kann Suchen nicht der Hauptzweck schulischen Lernens sein, sondern Finden, kognitives Durchdringen, Aneignen und Wiedergeben. Eine gut ausgestattete und professionell geleitete Bibliothek könnte sicherstellen, dass nicht noch mehr kostbare Lernzeit „vergoogelt“ wird und die Curricula mit „information literacy“- Kursen überfrachtet werden.
Die intensive Zusammenarbeit von Fachlehrer/innen und speziell für das Lernen in Schulbibliotheken ausgebildeten Spezialisten (documentaliste, library media specialist, teacher-librarian, Schulbibliothekar/in mit Schwerpunkt Schulbibliothek) bis hin zu team-teaching und Einzelbetreuung von Schülerinnen und Schülern kann, das zeigen Beispiele, zu einem Niveau bei Facharbeiten und Referaten in der Oberstufe führen, das manche Exzellenz- und Eliteuniversitätsinitiative überflüssig machen würde. Es mag für deutsche Ohren fantastisch klingen, aber das gibt es alles schon!

Lehrerinnen und Lehrer sind Schlüsselfiguren bei der Förderung der Medien-, Buch- und Lesekultur. Mit einer gut ausgestatteten multimedialen Bibliothek mitten in der Schule fiele ihnen diese Aufgabe sehr viel leichter.

Und nicht zuletzt: Ein Raum hat erzieherische Wirkung. Farbe, Licht, Möbel, Architektur überhaupt tragen zum Wohlbefinden bei und erleichtern das Lernen. Warum sonst entwerfen namhafte Architekten und Designer in Südtirol oder in New York Schulbibliotheken?

Ist es sehr vermessen zu hoffen, dass das Lernen in einer modernen, multimedialen Schulbibliothek für alle deutschen Schülerinnen und Schüler Wirklichkeit wird?

Autor:
Günter Schlamp, Direktor a. D.
Ehrenvorsitzender der LAG Schulbibliotheken in Hessen e.V.
Internet: www.schulbibliotheken.de
Weblog: http://basedow1764.wordpress.com


Redaktionskontakt: schuster@dipf.de