
Eine rastlose Vorkämpferin ästhetischer Erziehung und nachhaltiger Leseförderung |
25.10.2007 |
Kirsten Boie erhielt den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 2007
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Kirsten Boie Foto: Jochen Günther |
Die Laudatio auf Kirsten Boie hielt die Vorsitzende der Sonderpreisjury, Frau Prof. Birgit Dankert. Zur Jury gehören ebenfalls Brigitte Briese und Dr. Ludwig Eckinger.
Gegen die Bedrohung der Kindheit
„Warum sind wir so klein.... Warum müssen wir den Menschen immer unterlegen sein, seit Jahrtausenden schon? Warum nützen uns all’ unsere geheimen Kräfte nichts, wenn einer von Ihnen einfach nur bereit ist, Gewalt anzuwenden?“ – das fragt Thoril, ein Angehöriger des „kleinen Volkes“ in Kirsten Boies phantastischem Kinderroman „Die Medlewinger“. Man kann die Medlewinger als ständig bedrohtes Prinzip der Kindheit verstehen, der Kindheit als Schutzraum, Lern- und Spielwelt, Lebensbeginn und Kraftfeld.
Gegen die Bedrohung der Kindheit schreibt Kirsten Boie Kinder- und Jugendbücher, seit über 20 Jahren, in bisher mehr als 60 Texten, in einem der vielseitigsten Œuvres der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, für die sie sich ohne Abstriche entschieden hat.
Die meisten ihrer Texte erzählen von fröhlichen, tatkräftigen Kindern. Doch täuschen wir uns nicht, ihre liebenswerten Literaturfiguren wie der jede Alltagssituation meisternde „Juli“, die lebenstüchtige Fußballerin „Lena“ und die „Kinder aus dem Möwenweg“ sind keine Jungen und Mädchen aus Kirsten Boies Nachbarschaft. Sie gewinnen ihre Heiterkeit in sorgfältiger Komposition aus besorgt-liebevoller Warte.
Komik in Kirsten Boies lustigen Alltagsszenen entsteht – wie alle dichterische Komik – aus der aussagekräftigen Dissonanz von Erwartung, Absicht und Resultat, spricht von bedrohten, aber nie vergeblichen Träumen, denen sie in ihren Kunstmärchen und phantastischen Geschichten einen durch die Realität nicht begrenzten Raum gestattet. Ihr neuester Jugendroman „Alhambra“ dringt dabei auch in historische Dimensionen vor. Kirsten Boies literarischer Kinderkosmos ist ein Kunstwerk, kein Abbild.
Eine Erzählstrategie der Boie-typischen „kunstvollen Authentizität“ ist ihre Variante des inneren Monologes. Dieser Kinder- oder Jugendlichen-Monolog ist nicht naturalistisch angelegt, sondern auktorial gelenkt, kommt von höherer Warte und bringt Erfahrungswerte außerhalb der denkenden, fühlenden Person ein – als künstlerische Entscheiduung einer Autorin, die sich nicht in Unverbindlichkeit zurückziehen, aber auch nicht mit Geschichten disziplinieren will.
Allerdings besitzen diese Texte eine Dimension, die von Buch zu Buch deutlicher wurde: das Leben der Mittelschicht, ihr Wertekanon, ihre Attituden sind brüchig: die anspruchsvollen Kinder, die selbstgerechten, überforderten Mütter, die schwindenden Spiel-, Lern- und Freiräume, die Nähe zur Asozialität an den Rändern bürgerlicher Gemeinschaft.
Veränderte literarische Mittel für veränderte Wirklichkeiten
Für Kinder im Erstlesealter hat Kirsten Boie diesen schwankenden Boden ihrer Existenz humorvoll versteckt. In Geschichten für Ältere wie „Mit Kindern redet ja keiner“ (1990) macht sie die Brüchigkeit zum Thema. Seit etwa 1990 suchte Kirsten Boie neue Wege, die Wirklichkeit der Kinder für Kinder literarisch zu vermitteln. Bücher wie „Ich ganz cool“ (1992) als Dokument jugendlichen Sprach- und Denkverhaltens im Milieu Hamburger Sozialhilfe zeugen davon.
Zwanzig Jahre hindurch hat Kirsten Boie an ihrem Sprach- und Erzählstil gearbeitet – veränderte literarische Mittel für veränderte Wirklichkeiten, gewonnene Einsichten für nachgewachsene Lesegenerationen. Diese immerwährende Übung darf nicht als nachholender Vollzug, sondern muss als hell- und weitsichtiger Seismograph verstanden werden.
Sie hat dabei in ihren Büchern Konfliktherde ausgemacht,
die erst Jahre später ins allgemeine Bewusstsein gelangten: die Kluft zwischen überversorgten und vernachlässigten Kindern, ein Menetekel der Zweiklassen-Gesellschaft, die neue Familie in Patchwork-Gemeinschaften mit alleinerziehenden Eltern, die wachsende Gewalt im Kinder- und Schulalltag, die Ökonomisierung der Kinderkultur, das Zusammenleben mit Migrantenkindern. Die Szenen dieser neuen deutschen Kinderwirklichkeit erlangen eine Präzision, deren Hellsichtigkeit denjenigen schmerzt, der sie vor Jahren als pointierte, liberal-heitere Milieustudien empfand.
Woher nimmt Kirsten Boie die Motivation, Fähigkeit und Stärke, sich in Bilderbuch und Erstlesetext, in Kunstmärchen, Satire und Groteske, in realistischen, phantastischen und historischen Romanen für Kinder und Jugendliche auszudrücken und dabei ihren Texten auch in Hörspiel, Theaterstück, Film und anderen Medienadaptionen die Qualität zu erhalten?
Als sie beim Jubiläum des Deutschen Jugendliteraturpreises gefragt wurde, was sie zu Schreiben veranlasse und welche Zusammenhänge zwischen ihrer Person und ihrem Werk bestünden, schwieg sie vernehmlich. Wem von der Öffentlichkeit und von kurzsichtigen Politikern lange genug auferlegt wird, seine Berufung als Kinderliteraturautor mit Rechtfertigungen dieser Literatursparte und mit seiner Befähigung zur Leseförderung zu definieren, der sträubt sich offensichtlich – oder es fehlen ihm einfach die Worte – über seine kreativen Qualitäten zu sprechen.
Kirsten Boie wird getragen von Talent und Disziplin, von Intuition und Erfahrung, von ständiger, intensiver Beobachtung ihrer Umwelt und einer ganz bestimmten Konstellation in Beginn und Verlauf ihres dichterischen Schaffens. Als promovierte Philologin und Lehrerin mit Berufserfahrung begann sie 1985 zu veröffentlichen. Sie hat die Protest- und Reformzeit der Pädagik aufgenommen, die Veränderung der westdeutschen Kinderliteratur bewusst erlebt. Später bezog sie die Programmatik dieser Jahre mit intellektueller Redlichkeit, sprachlicher Exaktheit und dem selbstauferlegten Verdikt präziser Studien auf eigene Texte, von denen sie auf Grund ihrer Ausbildung und Erfahrung mit Recht annehmen konnte, dass sie von Kindern wirklich gelesen, verstanden und verinnerlicht werden. Mit anderen Worten: Kirsten Boie machte durch Begabung, Disziplin und Verantwortungsgefühl hanseatischen Ernst mit den Proklamationen der 68iger. Nichts ist ihr höher anzurechnen!
Eine eigens für Kinder geschaffene Literatur
Der Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 2007 ist für das Gesamtwerk einer d e u t s c h e n Autorin ausgeschrieben. Daher stellt sich die Frage „Was ist deutsch an Kirsten Boies Literatur?“
Die Jury gibt darauf die Antwort: Kirsten Boie steht nicht nur in der Tradition der nordwesteuropäischen Kinder- und Jugendliteratur, sondern zeigt in ihrem Werk einen engen Bezug zur deutschsprachigen Literaturgeschichte, zur Ästhetik des deutschen Idealismus, zum Gedankengut der auch in Hamburg formulierten Reformpädagogik und den positiven Werten des aufgeklärten hanseatischen Bürgertums mit seiner Weltoffenheit und Bereitschaft zu Selbstkritik und sozialem Engagement.
Unermüdliche Mitarbeit bei Aktionen der Leseförderung hält sie in Balance zum dichterischen Schaffen. Sie verwirklicht radikal den Anspruch, Kindern in einer eigens für sie geschaffenen Literatur Denk- und Erklärungsmuster zu bieten und ihnen Freiräume in sprachlichen Kunstwerken zu eröffnen. Das kennzeichnet Kirsten Boie als Angehörige einer Autorengeneration, die im Bewusstsein der deutschen Geschichte Kindern und Jugendlichen Stärke und Selbstbewusstsein für ein freies, selbstbestimmtes und –verantwortetes Leben vermitteln will.
Dabei ist sie eine Botschafterin der exakten, aber nicht kanonhaft verengten deutschen Sprache als im Wandel befindliches Kulturgut ohne Vollkommenheits- und Dominanzanspruch. So ist der Zusammenhang zwischen Herkunft, Erziehung und Sprachverhalten in jedem ihrer Kinder- und Jugendbücher in virtuoser, respektvoller Weise hergestellt.
Kirsten Boies deutlich spürbare Liebe zu der Region, in der sie aufgewachsen ist und bis heute arbeitet, kennt ebenso sympathisierende Nähe wie sarkastische Distanzierung, zärtliches Einfühlungsvermögen wie sprödes Befremden.
Kirsten Boie hat 25 Jahre lang die deutsche Kinder- und Jugendliteratur, ihre Vermittlung und ihre Analyse als Teil von Weltkultur geprägt. Als ich sie zur Vorbereitung dieser Laudatio nach der Zukunft der Kinder- und Jugendliteratur fragte, versicherte sie mir, sie denke eher über die Zukunft der Kinder als über die ihrer Literatur nach. Damit kennen wir nun doch ein Geheimnis ihrer Kreativität. Und daher bitte ich Sie, liebe Kirsten Boie, dieses Nachdenken fortzusetzen, damit Kinder, Eltern und alle, denen an Kinder- und Jugendlichen liegt, weiterhin auf Bücher von Ihnen hoffen dürfen. Herzlichen Glückwunsch!!
Zur Autorin:
Prof. Birgit Dankert arbeitete von 1981 bis 2007 als Professorin für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) und war zudem in der internationalen Lehre tätig. Von 1979 bis 1982 war sie Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur und von 1991 bis 1994 Vorsitzende der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Birgit Dankert ist Trägerin der Karl-Preusker-Medaille.
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