interview

„Jungen lieben Erfolgserlebnisse“

22.11.2006

Interview mit Prof. Dr. Christine Garbe über die Leseförderung von Jungen




Prof. Dr. Christine Garbe
Prof. Dr. Christine Garbe
Lesen in Deutschland: Wie erklären Sie sich, dass vor allem Jungen von Leseschwäche betroffen sind?

Christine Garbe: Dafür gibt es viele Ursachen. Das ist ein komplexes Phänomen, das man nicht monokausal erklären kann. Manche Gehirnforscher und Evolutionsbiologen behaupten zum Beispiel, dass ´männliche´ und ´weibliche´ Gehirne verschieden organisiert sind, bei weiblichen Gehirnen die Sprachkompetenz, Sozialkompetenz und Emotionalität stärker ausgeprägt seien und darum die Mädchen besser lesen (und schreiben) als die Jungen. Eine solche monokausale Erklärung greift aber in jedem Fall zu kurz, auch wenn man die Ansicht teilt, dass genetische (anlagebedingte) Faktoren eine Rolle spielen könnten. Die PISA-Studie 2000 hat festgestellt, dass die Jungen in punkto Lesekompetenz in allen untersuchten Ländern deutlich schlechter abschneiden als die Mädchen. PISA hat die Daten aber noch genauer ausgewertet und festgestellt, dass die Jungen, die viel und gern lesen, genau so gut lesen wie die entsprechenden Mädchen! Das spricht also gegen genetische Erklärungen; es spricht dafür, dass die Kompetenzunterschiede vor allem daher rühren, dass die Jungen weniger und weniger gern lesen als die Mädchen. Dies bestätigen uns ja auch zahlreiche andere Untersuchungen.

Stellt sich also die Frage, warum die Jungen weniger lesen als die Mädchen. Hierfür kommen meines Erachtens vor allem zwei Gründe in Betracht: Erstens liegt die gesamte literale und literarische Frühförderung von Kindern bis zum 10. oder 11. Lebensjahr heutzutage weitgehend in den Händen von Frauen: den Müttern, Erzieherinnen und Grundschul-Lehrerinnen. Wir haben es mit einer umfassenden „Feminisierung der Erziehung“ zu tun, die auch in anderen Bereichen eine systematische Benachteiligung für die Jungen bedeutet. Die ausgezeichnete Expertise von Ursula Rabe-Kleberg („Feminisierung der Erziehung von Kindern“) in den „Materialien zum Zwölften Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung“ (Bd. 2, 2005) führt die gegenwärtige „Bildungskrise der Jungen“ insgesamt auf diese Tatsache zurück. Für unser Thema bedeutet das: Wenn die Jungen Vorlesen und Lesen vor allem als eine ´weibliche´ Medienpraxis erleben, werden sie sich in dem Moment davon abwenden, in dem sie sich zur Entwicklung einer männlichen Geschlechtsidentität insgesamt von den Müttern und Frauen abgrenzen müssen. Zugleich lässt sich auch in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur, mindestens in derjenigen, die von Müttern, Erzieherinnen und Lehrerinnen an die Kinder herangetragen wird, wenig attraktiver Lesestoff für Jungen entdecken. Das potenziert das Problem.

Der zweite Grund liegt in der „Medienkonkurrenz“, die dem Buch in den letzten Jahrzehnten vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendmedien erwachsen ist. Die Jungen, die keine adäquaten „Helden“ und männlichen Rollenvorbilder mehr finden in der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur, wenden sich zunehmend vom Buch ab und den audiovisuellen und digitalen Medien zu: In einer Zeit, in der auch Jungen in früheren Jahrzehnten zu „Leseratten“ wurden und die von ihnen geliebten Abenteuer- und phantastischen Geschichten verschlungen haben, wenden sie sich heutzutage den Zeichentrickfilmen im Fernsehen oder den Bildschirmspielen auf dem Gameboy, der Spielkonsole oder dem Computer zu. Der Bildschirm ersetzt für viele Jungen das Buch, weil er für sie attraktivere Angebote bereithält

Lesen in Deutschland: Wie können Eltern, Lehrer, Vereine und Initiativen die Leselust und Lesefähigkeit von Jungen gezielt fördern?

Christine Garbe: Zunächst einmal: Das ist eine große Aufgabe, an der Familien, Schulen, Bibliotheken und andere gesellschaftliche Einrichtungen und Initiativen zusammen arbeiten müssen; es ist eine der großen Gemeinschaftsaufgaben einer Bürgergesellschaft. Darum bin ich froh, dass in den letzten Jahren immer mehr öffentliche und private Initiativen entstehen, die sich für dieses Thema engagieren. Wir haben in Lüneburg gerade ein „Netzwerk zur Förderung der Lesefreude und Lesefähigkeit“ gegründet, das einen seiner Schwerpunkte in der Jungenförderung haben wird. (Siehe unsere homepage www.netzwerk-lesefoerderung.de) Insgesamt ist es wichtig, dass Männer und männliche Jugendliche von Jungen als Lesepartner und lesende Vorbilder wahrgenommen werden. Wir brauchen (vor-)lesende Väter, Erzieher und Lehrer in den Grundschulen!

Ferner ist wichtig, dass die Schulen insgesamt der Leseförderung einen viel größeren Stellenwert geben als bislang, und zwar in allen Klassenstufen und allen Schulfächern. Dabei müssen insgesamt die (Lese-)Interessen und Medienpräferenzen von Jungen viel stärker berücksichtigt werden als bislang. Schließlich wird man die Jungen für das Lesen gewinnen, wenn man darunter nicht nur das Buch-Lesen versteht oder sogar nur das Lesen von fiktionaler Literatur, womöglich noch mit gehobenem literarästhetischem Anspruch, sondern auch Lesen am Bildschirm, Lesen von Sachtexten, Zeitungen und Zeitschriften. Man muss heutzutage das Lesen mit anderen Medien verbinden. Es ist absolut unzeitgemäß, das Lesen gegen die neuen Medien zu propagieren, wie dies etwa Katrin Müller-Walde in ihrem Buch „Warum Jungen nicht mehr lesen…“ (2005) tut. Das halte ich nicht für zielführend.

Lesen in Deutschland: Widmet sich die Wissenschaft noch zuwenig dem Thema Jungenförderung?

Christine Garbe: Ja, davon bin ich überzeugt. Durch die Frauenbewegung und die feministische Forschung haben wir in den letzten Jahrzehnten vor allem die Mädchen als förderungsbedürftiges Geschlecht im Blick gehabt. Erst in den letzten Jahren wird uns zunehmend bewusst, dass in vielen Bereichen eher die Jungen die „Problemfälle“ darstellen. Hinzu kommt, dass im Erziehungsbereich der Anspruch und die Realität der Koedukation die tatsächlichen Differenzen zwischen den Geschlechtern weitgehend verschleiert haben, letztere darum auch von den meisten Erzieher/innen und Lehrer/innen nicht wahrgenommen werden. Viele Pädagogen handeln in dem guten Glauben, sie würden Mädchen und Jungen gleich behandeln, und benachteiligen ungewollt dadurch häufig die Jungen. Wir müssen deshalb auch als Wissenschaftler/innen weiterhin daran arbeiten, die Differenzen zwischen den Geschlechtern zu erforschen, sichtbar zu machen und ein gesellschaftliches Problembewusstsein hierfür zu schaffen.

Lesen in Deutschland: Welche Ansätze in der Forschung bezüglich der Leseförderung von Jungen gibt es? Inwieweit wird dieses Thema kontrovers diskutiert?

Christine Garbe: In Deutschland gibt es noch kaum systematische Ansätze, geschweige denn Kontroversen. In den angelsächsischen Ländern ist dies etwas anders, hier ist das Problem eher erkannt worden und es liegen bereits einige profilierte Konzepte vor, die auch untereinander kontrovers sind. Die Kontroverse, die sich früher oder später auch in Deutschland einstellen wird, lässt sich auf folgende Kurzformel bringen: Affirmation oder Transformation von Geschlechter-Stereotypen? Damit ist gemeint: Sollen wir Jungen darin bestärkten, eine ausgeprägte Maskulinität zu entwickeln (zum Beispiel durch die Propagierung besonders maskuliner Rollenvorbilder und entsprechender Lesestoffe) oder wollen wir die traditionelle männliche Geschlechtsrolle eher transformieren (zum Beispiel hin zu einem androgynen Ideal)? Im letzteren Falle würde man daran arbeiten, die traditionellen Geschlechterpolaritäten zu hinterfragen und Jungen auch mit Literatur zu konfrontieren, die Geschlechterstereotype durchbricht und nicht einfach reproduziert. Meines Erachtens sollte man das eine tun und das andere nicht lassen; es ist alles eine Frage des richtigen Zeitpunktes und der konkreten Umstände.

Lesen in Deutschland: Wäre es sinnvoll, nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in der Genderforschung mehr als bisher Männer einzubeziehen?

Christine Garbe: Ja, absolut. Wir brauchen für die Förderung von Jungen das Engagement von Männern an vielen Stellen, also auch in der Wissenschaft. Unter unseren Studierenden für das Lehramt Deutsch sind höchstens 5 bis 10 Prozent Männer; das ist eine Entwicklung, die ich sehr bedauere. Ich arbeite deshalb daran, gerade diese Männer zu motivieren, sich für Leseförderung (von Jungen) zu engagieren. Das funktioniert auch sehr gut.

Lesen in Deutschland: Jungen lesen anders - wie könnten die Stärken von Jungen in der Leseförderung besser berücksichtigt werden?

Christine Garbe: Zunächst einmal dadurch, dass man generell ihre Interessen stärker berücksichtigt, zum Beispiel in der Schule. Eine erfolgreiche Methode aus den USA lautet: „my interest bag“ – mein Interessenkoffer. Schülerinnen und Schüler bringen in einem „Koffer“ all die Gegenstände in die Schule mit, die sie interessieren, und stellen diese vor. Die Lehrenden, Mit-Schülerinnen und Mit-Schüler und Bibliothekarinnen und Bibliothekare können dann gezielt Leseanregungen geben, die sich auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen beziehen. Wir wissen, dass gerade die Interessen von Jungen – z.B. an Sport, Technik, Fantasy – im schulischen Unterricht heutzutage kaum eine Rolle spielen.

Zweitens geht es um die Lernmethoden. Jungen lieben Erfolgserlebnisse und sind leicht frustriert und entmutigt, wenn sie immer nur mit ihren Defiziten konfrontiert werden – eine Praxis, die heutzutage an deutschen Schulen weithin dominiert. Gerade im Deutschunterricht erleben Jungen immer wieder, dass sie Misserfolge haben: schlechte Noten im Diktat usw. Ihre Erfolgserlebnisse holen sie sich dann am Computer, wo sie den Anforderungslevel selbst definieren können. Wir sollten diesbezüglich von den Computerspielen lernen und den Jungen (und natürlich ebenso den Mädchen!) Möglichkeiten anbieten, mit Lesen Erfolgserlebnisse zu generieren. Leseförderungsangebote wie die „Lese-Olympiade“, „Lese-Fitness“ oder die Lese-Plattform „Antolin“ machen sich dieses Prinzip bereits mit großem Erfolg zu Eigen. Es sollte also auch im schulischen Unterrichtsalltag zunehmend zur Praxis werden, dass wir uns an den Ressourcen und Fähigkeiten und nicht an den Defiziten der Kinder orientieren!


Prof. Dr. Christine Garbe lehrt seit 1996 an der Universität Lüneburg „Literaturwissenschaft und –didaktik“ im Lehramt Deutsch sowie „Sprache und Kommunikation“ im Studiengang Angewandte Kulturwissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Lehre und Forschung sind: Literarische Sozialisation und Leseforschung, Mediensozialisation und empirische Rezeptionsforschung; Kinder- und Jugendliteraturforschung; literaturwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung zum 18. bis 21. Jh.

2005 gründete sie mit sechs Kolleginnen und Kollegen ein interdisziplinäres Forschungszentrum für „Medienkultur und Mediensozialisation“ an der Universität Lüneburg. Dort arbeitet sie im Schwerpunkt „Erwerb von Literalität und Medienkompetenz in Kindheit und Jugend“. 2006 initiierte sie die Gründung von „Netzwerk Leseförderung Lüneburg“ (www.netzwerk-lesefoerderung.de). Im November 2006 erhielt sie die Bewilligung für die Leitung eines EU-Projektes im SOCRATES-Programm „General activities of observation, analysis and innovation“, Action 6.1.2 and 6.2: “ADORE. Teaching Struggling Adolescent Readers. A Comparative Study of Good Practices in European Countries” mit 11 europäischen Ländern (Projektbudget 630.000 Euro, davon 440.000 Euro EU-Mittel), Laufzeit Jan. 2007 – Dez. 2008.

Autorin: Katja Haug


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