
100 indische Bilderbücher |
04.10.2006 |
Die Internationale Jugendbibliothek über indische Kinder- und Jugendliteratur
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Illustration eines indischen Bilderbuchs, Quelle: IJB |
Am Stadtrand von München, in Obermenzing, liegt hinter Bäumen versteckt die mittelalterliche Schlossanlage Blutenburg. Seit 1983 ist hier die Internationale Jugendbibliothek mit der weltweit größten Sammlung an Kinder- und Jugendliteratur untergebracht. Aus dem ehemaligen Jagdschloss ist ein Bücherschloss geworden.
Die Entstehungsgeschichte der Bibliothek nimmt ihren Anfang unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die jüdische Journalistin Jella Lepman kehrte 1946 im Rahmen des Reeducationprogramms der Amerikaner in das zerstörte Deutschland zurück.
Sie sah in der Verständigung über Kinder- und Jugendbücher eine Möglichkeit, nach den langen Jahren des Naziterrors und der Kriegsschrecken neue Hoffnungen und Werte zu finden, und vor allem Verständnis für andere Menschen und Völker zu wecken. Aus dieser Idee entstand eine internationale Kinder- und Jugendbuchausstellung in München, die im Anschluss durch Deutschland wanderte. Diese ersten 4000 Bücher bildeten den Grundstock der Internationalen Jugendbibliothek, die 1949 gegründet und seither zu einem international anerkannten Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur in den Originalsprachen ausgebaut wurde.
Riesenbücherfundus und vielfältige Aktivitäten
Jella Lepman richtete ihr Augenmerk auf Kinder und Erwachsene. Sie suchte den Diskurs über Kinderliteratur und bot zugleich den Kindern selbst eine Auswahl von Büchern an. Bis heute sind dies die beiden Grundlinien der Arbeit der Internationalen Jugendbibliothek. Mittlerweile umfasst die Sammlung mehr als eine halbe Million Kinder- und Jugendbücher in 130 Sprachen sowie 30.000 Titel internationaler Sekundärliteratur. In der Studienbibliothek stehen Fachleuten aus dem In- und Ausland darüber hinaus etwa 280 laufende Fachzeitschriften und zahlreiches weiteres Dokumentationsmaterial zur Verfügung. Seit 1993 werden alle Neuzugänge im Computer katalogisiert, so dass die Bestandsnachweise der Internationalen Jugendbibliothek auch im Ausland via Internet einsehbar sind.
In der Ausleihbibliothek können Kinder und Jugendliche zwischen ca. 25.000 Büchern und AV-Medien in 15 verschiedenen Sprachen auswählen. Darüber hinaus ist das Angebot der Internationalen Jugendbibliothek für kleine und große Besucher breit gefächert: Es reicht von Führungen über Symposien, Erzähltermine und Lesungen bis hin zu Familienprogrammen und kreativen Nachmittagskursangeboten für Kinder.
Wie schon zur Gründung spielen Ausstellungen im Programm der Internationalen Jugendbibliothek eine wichtige Rolle. Über das ganze Jahr sind Buch- oder Illustrationsausstellungen zu vielfältigen Themen zu sehen. Eine Besonderheit im Bücherschloss sind vier LeseMuseen für die bekannten Kinderbuchautoren Michael Ende, Erich Kästner, James Krüss und für die Illustratorin Binnette Schroeder. Mit Fotos, Originalillustrationen, persönlichen Gegenständen und natürlich mit vielen Büchern werden die Besucher an das Leben und Werk der Künstler herangeführt. Immer wieder beeinflussen auch aktuelle Themen die Gestaltung des Ausstellungsprogramms.
Indien ist in diesem Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse.
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Luftaufnahme des Bücherschlosses in München, Quelle: IJB |
Die literarische Vielfalt des indischen Subkontinents
Der indische Subkontinent ist in 28 Bundesstaaten unterteilt. Neben Hindi und Englisch gibt es 17 regionale Sprachen und über 1.600 Dialekte. Etwa 11.000 Verlage publizieren mehr als 15.000 Titel jährlich. Die Kinder- und Jugendliteratur bildet nur einen kleineren Teil davon. 2003 wurden 153 Kinderbuchverlage gezählt und 54 Institutionen, die zum Teil auch als Verlag arbeiten. Rund 1.450 Autoren, von denen 459 in Hindi schreiben, weist diese Statistik auf, dazu 101 Illustratoren, 82 Kinder- und Jugendliteraturforscher und 307 Zeitschriften für Kinder.
Die wichtigsten Sprachen, in denen für Kinder publiziert wird, sind neben Englisch und Hindi Bengali, Gujarati, Marathi, Kannada, Malayalam, Oriya, Pandschabi, Tamil, Telegu und Urdu. Diese Aufzählung verdeutlicht, wie komplex das indische Verlagswesen auch im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur sein muss. Besonders stark sind nach wie vor traditionelle Stoffe vertreten, die auf der Tradition der mündlichen Erzählformen fußen. Hierzulande nicht gänzlich unbekannt sind die großen Sammlungen Panchatantra, Mahabharata und Ramayana, gibt es doch eine Reihe von Fabeln und Märchen, die aus diesen Überlieferungen kommen. Erzählungen, wie z. B. „Der Affe und das Krokodil“ oder „Der Löwe und das Kaninchen“, sind durch frühe Reisende aus Asien nach Europa gekommen.
Die Ausstellung „100 Bilderbücher aus Indien“
Wie in den meisten Ländern mit einer jahrhundertealten mündlich überlieferten Erzählkunst, entstanden auch in Indien erst relativ spät Bücher für Kinder. Zunächst gab es nur Bücher für den Schulgebrauch, Texte zum freien Lesen und zur Unterhaltung fehlten. Etwa ab 1930 erschienen illustrierte Geschichten für Kinder in verschiedenen indischen Sprachen, allerdings nur in geringer Zahl und meist in kleineren Auflagen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich besonders das Angebot englischsprachiger Texte. Mit der Gründung des Children’s Book Trust (CBT) durch den politischen Cartoonisten und Illustrator K. Shankar Pillai im Jahre 1957 begann eine lebhafte Buchproduktion, meist allerdings schmale Hefte mit wenigen Seiten und weichem Einband. In der Bilderbuchausstellung „100 Bilderbücher aus Indien“, die die Internationale Jugendbibliothek noch bis zum 27. Oktober zeigt, befinden sich allerdings auch viele sehr opulent gestaltete Bücher mit festem Einband. Sie vermitteln einen guten Eindruck von der Kinderbuchproduktion im 21. Jahrhundert.
Viele Bücher der Ausstellung sind in englischer Sprache erschienen, zeigen den Besuchern aber auch Texte in Hindi, der Sprache, die in Indien von nahezu 45 Prozent der Bevölkerung gesprochen wird, sowie einige in anderen Sprachen. Die Illustrationen überraschen mit einer großen Bandbreite von Stilen und Darstellungen. Von Mythen und Legenden bis hin zu Alltagsgeschichten ist alles zu finden, und von einem eher international geprägten Zeichen- bzw. Malstil bis zu eindrucksvollen Adaptionen überlieferter Muster der Volkskunst auf Mauern, Tüchern oder handgeschöpften Papieren. Zur Ausstellung „100 Picture Books from India“ liegt ein Katalog in englischer Sprache vor, der jedes Buch in Text und Bild vorstellt.
Der Erzählschrank hilft beim Nacherzählen
Um auch Schulklassen diese Ausstellung nahe zu bringen, werden verschiedene Programme angeboten. Nachdem die Kinder sich die Ausstellung angeschaut haben, können sie sich auf künstlerischem und spielerischem Wege den Büchern nähern. Sie entdecken die Illustrationen, hören Fabeln und Geschichten aus dem reichen Märchenschatz Indiens und diskutieren über das Gehörte. Im Anschluss gestalten sie – inspiriert von den Erzählungen und Illustrationen – entweder farbenprächtige Fensterbilder, indische Lernplakate oder kleine Erzählschränke wie sie auch in Indien zum Erzählen von Geschichten verwendet werden. Mit dem selbst bemalten Erzählschrank können die zuvor gehörten Geschichten dann in der Schule oder zu Hause nacherzählt werden. So setzt sich die alte Tradition des mündlichen Erzählens weiter fort. Zum Abschluss der Ausstellung wird eine Geschichtenerzählerin am 26. Oktober im Münchener Bücherschloss für Kinder Geschichten aus Indien erzählen.
Autorinnen: Direktorin der Bibliothek Dr. Barbara Scharioth und Pressesprecherin Bettina Neu
Redaktionskontakt: redaktion@lesen-in-deutschland.de