interview

Heimatloser Sprachenreichtum

28.09.2006

Analphabetismus ist nur eines der Probleme der Kölner Roma-Kinder


Roma-Kinder auf der Straße, Bild von Stanislav Micha, Copyright: Strandfilm
Roma-Kinder auf der Straße, Bild von Stanislav Micha, Copyright: Strandfilm
Leseförderung heißt in manchen Fällen leider schlicht und ergreifend „Alphabetisierung“. Zum Beispiel in der Arbeit des Projektes Amaro Kher. “Amaro Kher“ bedeutet in der Sprache der Roma „Unser Haus“. So heißt das Projekt, das der für seine Verdienste preisgekrönte Kölner Verein Rom e.V. 2004 ins Leben gerufen hat. Rund 30 Kinder, die oft weder einen Kindergarten noch eine Schule besucht haben, nehmen teil. Sie werden an die deutsche Sprache und den Schulalltag gewöhnt. Wir sprachen mit dem Lehrer Christoph Schulenkorf über seine Arbeit, die erschreckende Lebenssituation der Roma-Familien und Ansätze der Alphabetisierung und Grundbildung der Kinder und Jugendlichen.

Lesen in Deutschland: Weshalb wurde das Projekt „Amaro Kher“ ins Leben gerufen?

Christoph Schulenkorf: Amaro Kher ist Teil eines sehr großen Projektes, das hier in der Stadt ins Leben gerufen wurde. Grund waren die vielen durch Taschendiebstahl straffällig gewordenen Roma-Kinder, über die man seit Jahren in den Kölner Zeitungen liest. Die Stadt hatte lange Zeit versucht, durch Polizeimaßnahmen auf die in den Medien als „Klaukids“ titulierten Kinder zu reagieren. Das hat jedoch keinen Erfolg gezeigt. Das Problem ist größer geworden, und daraufhin haben Stadt und Land gesagt: „Wir müssen versuchen, ein pädagogisches Konzept zu finden, um die Ursachen der Straffälligkeit zu beheben.“

Ein Amaro Kher übergeordnetes Projekt ist in das Schulwesen integriert. Einige Schulen, ich glaube insgesamt zehn Schulen in Köln, haben eine halbe Lehrerstelle zugewiesen bekommen, um schwerpunktmäßig Roma-Kinder zu unterstützen. Sie haben die Aufgabe, die Zusammenarbeit mit den Flüchtlingsheimen und deren Trägern zu organisieren. Gleichzeitig war man sich darüber klar, dass dadurch nur ein Teil der Kinder erreicht wird und dass es immer noch Kinder gibt, die sich auch durch dieses Angebot nicht ansprechen und für die Schule begeistern lassen. Deswegen wurde das Projekt „Amaro Kher“ installiert. Wir bekommen Kinder vom Jugendamt zugewiesen, die weiter auf der Straße sind und die nicht in die Schule gehen, obwohl auch Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis mittlerweile schulpflichtig sind.

Lesen in Deutschland: Das heißt, Sie arbeiten auch mit Jugendlichen, die noch nie eine Schule besucht haben?

Christoph Schulenkorf: Mit solchen Jugendlichen haben wir vor zwei Jahren angefangen zu arbeiten. Sie sind uns eigentlich im Sommer „zugelaufen“ und sagten „Wir wollen kommen“. Doch wir merkten, dass wir den Jugendlichen kein richtiges Angebot machen konnten. Das sind 14- bis 16jährige gewesen, die einfach eine ganz eigene

Zwei Jungen im Karton, Bild: Rom e.V.
Zwei Jungen im Karton, Bild: Rom e.V.
Geschichte.haben und nach Roma-Kriterien schon erwachsen sind. Sie sind zum Teil schon verheiratet und zum Teil haben sie auch schon Kinder. Da konnten wir mit unserem Angebot von Alphabetisierung und wirklich nur lernen wenig ausrichten. Das heißt, eigentlich hätten sie ein ‚Lernen und Arbeiten’-Angebot gebraucht. Das konnten wir in dem Rahmen nicht leisten.

Im Augenblick besteht Amaro Kher aus drei Gruppen. Einer Kindergartengruppe mit Kindern zwischen vier und sechs Jahren, die von einer Roma-Frau betreut wird. Dann gibt es die Primarstufe, die von mir betreut wird, ich bin Sonderschullehrer. Diese Gruppe hat die Altersspanne von sechs bis zehn Jahren. Dann gibt es einen zweiten Sonderschullehrer, der betreut die älteren Kinder, die Zehn- bis Zwölfjährigen.

Lesen in Deutschland: Mit welchen Problemen sind Roma in besonderem Maße konfrontiert?

Christoph Schulenkorf: Um das zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Roma hier in Köln anschauen. Sie leben seit fünfzehn Jahren hier und sind Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie sind vor fünfzehn Jahren mit der Hoffnung nach Deutschland gekommen, hier eine sichere Bleibe zu finden. Seit fünfzehn Jahren sind sie in der Situation, dass sie jeweils nur die Aussetzung ihrer Abschiebung erhalten. Diese Unsicherheit ist eines der immensen psychischen Probleme, mit denen wir es zu tun haben. Die Familien sitzen immer noch in Flüchtlingsheimen und das sieht so aus, dass in ein bis zwei Räumen, jeweils 16 m², im Durchschnitt acht bis zehn Menschen leben. Das summiert sich dann auf einem Flur dementsprechend. Wenn man sich vor Augen führt, dass zehn bis zwanzig Räume so belegt sind, kann man sich leicht vorstellen, welche Spannungen und Unruhen sich dort entwickeln. Die Kinder, die wir haben, kommen in der Regel nie vor zwölf oder eins in der Nacht ins Bett, weil die Erwachsenen sich in den Räumen unterhalten, Fernsehen schauen oder weil die Kinder zum Teil auch länger draußen sind. Eine Familienstruktur wie in unserer Gesellschaft, bei der die Kinder in der Regel zwischen acht und zehn ins Bett geschickt werden, ist da gar nicht möglich.

Hinzu kommt, dass in den Flüchtlingsheimen oft Razzien stattfinden. Dann werden alle Familien nachts um zwei oder drei aus den Betten geholt, um zu überprüfen, ob auch wirklich die richtige Familie in den richtigen Räumen ist, oder ob es Leute gibt, die sich vor ihrer Abschiebung verstecken. Die Familien haben keine Arbeitserlaubnis und Gelder werden Ihnen manchmal über Monate als Sanktion nicht gezahlt. Aus dieser Not heraus entsteht auch Kriminalität. Ohne das Verhalten verteidigen oder erklären zu wollen, habe ich schon das Gefühl, dass es für die Kinder, mit denen ich hier spreche, einfach so ist, das sie auch Anteil an dieser Gesellschaft haben wollen. Sie sagen: „Da sind Kinder, die laufen herum und essen ein Eis und die haben einen Walkman, und wir können uns das alles nicht leisten, weil wir überhaupt kein Geld haben.“

Lesen in Deutschland: Wie kann man Kindern in einer solch katastrophalen Lebenssituation das Lesen und Lernen näher bringen?
 
Christoph Schulenkorf:
Um die sozialen, psychischen und rechtlichen Probleme kümmern sich Sozialarbeiter, Pädagogen und Körpertherapeuten. Wir Lehrende fangen in der Regel damit an zu überprüfen, welches Sprachverständnis für Deutsch die Kinder haben. Denn das ist bei weitem nicht immer gegeben, selbst wenn die Kinder schon lange in Deutschland leben oder sogar hier geboren sind, heißt das noch lange nicht, dass sie über einen ausreichenden aktiven und passiven Wortschatz verfügen, um dem Unterricht folgen zu können. Bei vielen Kindern müssen wir mit dem grundsätzlichen Lernen der Sprache anfangen. Sobald eine Grundkommunikation möglich ist, erweitern wir das Ganze und  nutzen natürlich alle möglichen Techniken, die uns als Sonderschullehrern zur Verfügung stehen, um das Lernen von lesen, schreiben und rechnen zu erreichen.

Bis jetzt, zumindest nach diesen zwei Jahren, haben wir das Gefühl, dass es relativ erfolgreich war. Einige Kinder haben wirklich die Grundkenntnisse des Schreibens erworben, können lesen, auch wenn sie aufgrund der Sprachprobleme noch nicht alles verstehen. Denn Leseverständnis und Lesenkönnen liegen ja oft noch weit voneinander entfernt. Auch im mathematischen Bereich wurden die Kinder an das Leistungslevel ihres Alters herangeführt. Da haben wir schon ganz gute Erfolge erzielt, finde ich.

Lesen in Deutschland: Wie ist es mittlerweile um die Schrift- und Lesekultur bei den Roma bestellt?

Christoph Schulenkorf: Die Roma haben keine Schriftkultur, alles wird mündlich weitererzählt. Erst seit zwanzig bis dreißig Jahren findet der Versuch statt, das Romanes zu verschriftlichen. Das Problem ist jedoch, dass es das Romanes als offizielle Sprache nicht gibt. Also als Sprache, die als abgeschlossenes, ganzes Konstrukt existiert. Überall, wo die Roma in verschiedenen Ländern gelebt haben, ist der jeweilige kulturelle Einfluss zum Teil in die Sprache eingegangen. Roma aus Bulgarien verwenden zum Teil andere Wörter und Sprachstrukturen als Roma, die aus Kroatien oder Mazedonien kommen. Dann gibt es auch noch eine Auseinandersetzung darüber, was die richtige Schreibweise sein soll.

Gleichwohl gibt es eine Reihe von Roma-Literaten und -Schriftstellern, die einfach versuchen, dem Romanes einen schriftlichen Wert zu geben und hochkarätige Literatur  produzieren. Auch in der gesamten europäischen Musikkultur – zum Beispiel in Spanien - sind Einflüsse der Roma-Kultur festzustellen. Musik ist ja auch eine Möglichkeit, etwas festzuhalten. Das, was in der deutschen bürgerlichen Mittelschicht als hochwertig angesehen wird, gibt es bei Roma jedoch nicht. Die Kinder kommen in die Schule und haben noch überhaupt keine Erfahrung mit Texten. Sie wissen auch nicht, was für schöne Erlebnisse man durch das Lesen haben kann.

Lesen in Deutschland: Wie inszenieren Sie den ersten Kontakt mit der deutschen Sprache?

Christoph Schulenkorf: Man fängt im Endeffekt wirklich mit ganz grundlegenden Sachen an. Eine Methode, die ich oft anwende, ist, dass ich Geschichten erzähle aus einem Bilderbuch. Ich habe einen kleinen Erzählkasten, kopiere mir Bilder aus Bilderbüchern, erzählen den Kindern eine Geschichte und zeige ihnen jeweils das passende Bild dazu. Das ist ein bisschen wie Fernsehen für die Kinder, und so kriegen sie überhaupt erst zusammenhängende Geschichten mit.

Wenn ich den Kindern das ohne Bilder erzählen würde, dann wären sie hoffnungslos überfordert, weil sie sich solche Sachen einfach nicht merken können. Aber mit den Bildern haben sie, auch wenn sie mir die Geschichte zurückerzählen, immer wieder die Möglichkeit, sich zu erinnern. Und dieses sich erinnern und in Sprache fassen, das klappt mittlerweile auch bei den kleinen Kindern ganz gut. Ich hatte jetzt gerade die Geschichte „Der Archibald und sein kleines Rot“, das ist eine Geschichte, bei der sich das Rot einer Backe von einem Mann verflüchtigt, weil er so langweilig ist. Der Mann verfolgt dann das Rot, das aber immer wieder abhaut und mit allen möglichen Leuten spielt. Das ist eine sehr komplexe Geschichte.

Lesen in Deutschland: Auch acht- oder neunjährige Kinder, die schon eine gewisse Zeit an  dem Projekt „Amaro Kher“ teilnehmen, können nicht selbstständig in einem Buch schmökern? 

Christoph Schulenkorf: Nein, das funktioniert noch überhaupt nicht. Was funktioniert ist, dass wir einzelne Wörter erlesen und die Kinder mittlerweile sogar kleine Geschichten selber schreiben. Wir arbeiten sehr viel in Projekten. Im letzten Jahr hatten wir beispielsweise ein Hunde-Projekt, da haben die Kinder dann über Hunde geschrieben. Wenn ich ihnen aber ein Buch über einen kleinen Hund geben würde, das sie lesen und dessen Text sie wiedergeben sollten, wären die Kinder überfordert. Darüber selbst zu schreiben ist noch eher möglich als das Lesen von Geschichten.

Wir haben momentan die Themen „Bauernhof“ und „Brot backen“, und auch da hänge ich Bilder in der Klasse auf, auf denen ein einzelnes Wort steht, wie zum Beispiel „Kuh“. Einfach, um ein differenziertes Vokabular aufzubauen. Ich arbeite auch mit dem „Hamburger ABC“, das ist in Hamburg aus der Alphabetisierung von Migranten entstanden. Allerdings als Programm für Erwachsene, das erst einmal nur Substantive hat, die verschiedenen Laute aufgreift und mit Begriffen aus dem Alltag arbeitet. Es versucht eine differenzierte Wahrnehmung zu fördern, denn nicht alles, was man oberhalb des Gürtels trägt, ist ein „Sweatshirt“, das kann auch ein „T-Shirt“, ein „Hemd“ oder ein „Mantel“ sein.

Einige Kinder können damit auch selbstständig lesen. Es wird zum Beispiel eine Frage gestellt, die sich immer wiederholt oder es wird zum Beispiel gefragt „Was ist laut? Das Auto ist laut“ oder „Was ist laut? Der Sturm ist laut“ und dann müssen die Kinder die Satzstruktur ergänzen.

Lesen in Deutschland: Die Vorbildrolle der Eltern spielt eine wichtige Rolle beim Lesenlernen. Kommen manche Eltern auf Sie zu und sagen „Ich will mein Kind unterstützen und mache selbst einen Alphabetisierungs-Kurs“?

Christoph Schulenkorf: Einige Mütter besuchen Sprachkurse, die im Rahmen des Projektes angeboten werden. Zum Teil können wir dies auch in der Schule leisten. Hin und wieder setzen wir uns mit einem Buch hin und die Kinder kuscheln sich an. Dann sind wir so etwas wie ein Vorbild. Angesichts unserer personellen Situation bekommen wir das natürlich nur sehr selten hin. Denn eigentlich müsste es solche „Vorlesekuscheleinheiten“ geben.

Lesen in Deutschland: Also wären Vorlese-Paten erwünscht?

Christoph Schulenkorf: Vorlese-Paten sind erwünscht. An vielen Schulen gibt es ja schon Lese-Mütter, -Väter oder -Omas. Wenn sich jemand bei uns zurechtfindet und sagt, „Ich kann mir das vorstellen“, ist er oder sie hier herzlich willkommen!

Das Interview führte: Katja Haug

 


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