
Wer lesen will, sollte hören |
26.04.2006 |
Hören als Vorläuferkompetenz
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Illustration auf der Website des Studiengangs Online-Journalismus der Hochschule Darmstadt |
Das Ohr als Eingang in das mentale Lexikon
In der Studie „Kognitive Defizite bei Leseschwäche“ geht Karin Landerl von der Universität Salzburg der Frage nach, inwiefern und in welchen Bereichen der verbalen und nonverbalen kognitiven Verarbeitung Kinder mit schwacher Lesefähigkeit Defizite haben. Dabei wurde deutlich, dass Kinder mit Problemen in der verbal-linguistischen Verarbeitung gefährdet sind, Leseschwierigkeiten zu entwickeln. Zu diesem Ergebnis kam auch die so genannte „kognitionspsychologische Leseerwerbsforschung“. Ihr zufolge sind Schwierigkeiten im Erwerb der Lesefertigkeiten oft auf ein verbal-linguistisches Defizit zurückzuführen. Genauer gesagt, geht es „um ein phonologisches Defizit in der Verarbeitung der Sprachlautstruktur“, erläutert Jutta Kleedorfer im Artikel „Lesen: sehen und hören“. Die Kinder haben demnach Schwierigkeiten, den lautlichen Aufbau von Sprache zu erfassen und sie, gut strukturiert, „phonologisch im mentalen Wortlexikon“ zu speichern.
Neben diesen verbalen Faktoren als Ursache für Leseschwäche untersuchen Wissenschaftler auch den möglichen Zusammenhang mit visuellen Defiziten. Diese Zusammenhänge sind aber laut Landerl nicht empirisch belegt und nicht wissenschaftlich abgesichert. Die Wissenschaftlerin resümiert: „Bei leseschwachen Kindern liegen zwar Defizite in der nonverbalen, vor allem visuellen kognitiven Verarbeitung vor, eine Intervention in diesem Bereich scheint aber weniger erfolgsversprechend als Interventionsprogramme, die auf die verbale/phonologische Verarbeitung sowie auf die Vernetzung von Sprache und Schrift abzielen“, so Karin Landerl.
Hörfähigkeit als Vorläuferkompetenz des Lesens
Die Schulung des Hörens verbessert nicht nur die allgemeine Sprachkompetenz und Konzentrationsfähigkeit, sie wird auch als elementare „Vorläuferkompetenz“ des Lesens verstanden. So lernen Kinder in der Grundschule oft Begriffe wie „Lo-ko-mo-ti-ve“ oder „Schuh-verkäufer“ zu klatschen. Die Kinder lernen zu jedem Laut einen dazugehörigen Buchstaben und eine Gebärde. Eine beliebte Methode ist es auch, Kinder Holzbuchstaben in einem Stoffsäckchen ertasten zu lassen. Ein Pappfisch mit drei Löchern eignet sichzur Demonstration, wie sich Anlaut, Mittellaut und Endlaut unterscheiden lassen. Inzwischen hat es sich etabliert, dass Kinder anfangs nur lautgetreu, nicht aber korrekt schreiben dürfen.
Auch wenn viele Kindertagesstätten und Grundschulen die Wichtigkeit, das Gehör beim Lesenlernen mit einzubeziehen erkannt haben, mangelt es bei vielen Grundschülerinnen und Grundschülern am „Hinhörenkönnen“. Der Würzburger Professor für pädagogische Psychologie Wolfgang Schneider hat aus diesem Grund unter dem Titel „Hören, lauschen, lernen“ ein Programm zur Förderung der so genannten phonologischen Bewusstheit entwickelt. Es soll Lese-Rechtschreib-Schwächen vorbeugen, und dass sowohl bei Kindern mit Konzentrationsschwächen als auch bei hörgeschädigten Kindern. Unter phonologischer Bewusstheit wird allgemein der Einblick der Kinder in die gesprochene Sprache verstanden. Sie lässt sich auch als eine Bewusstheit um größere sprachliche Einheiten wie Wörter, Silben und Reime schon in Kindergartenalter beobachten. Im Schulalter zeigt sie sich in der Fähigkeit, vorgesprochene Wörter in ihre Lautbestandteile zu zerlegen, was die phonologische Bewusstheit im engeren Sinne meint.
Genau dies müssen die Kinder üben – nach dem Konzept von Schneider am besten verstärkt im letzten Kindergartenhalbjahr. In dafür entwickelten „Geräuschespielen“ üben sie täglich, unterschiedlichste Geräusche zu unterscheiden. Sie lernen herauszufinden, aus welcher Richtung die Geräusche kommen und sie aus einem Klangteppich herauszufiltern. Auch Reime oder Reimspiele sind für die Sprachentwicklung wichtig.
Mit Hörbüchern das Ohr trainieren
Hörbücher sind im Trend. Sehr praktisch, denn man kann sie ausgezeichnet nutzen, um zum Beispiel mit der Vertonung der Harry-Potter-Bücher das Gehör von Kindern zu schulen und ihnen eine Freude zu bereiten. Wie wichtig Vorlesen für die Sprachentwicklung und die Entwicklung von Lesekompetenz ist, wurde oft betont. Vorlesen ist mit dem Hören von Hörspielen und Hörbüchern auch nicht zu ersetzen, weil die Vorlesesituation mit Zuwendung, Geborgenheit und Kommunikation verbunden ist.
Dennoch sind elektronische Geschichtenerzähler, wie der Kassettenrekorder oder der CD-Player nicht zu verachten: Der Medienwissenschaftler Cristoph Klimmt vom Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover befürwortet den Einsatz von Hörspielen für den Spracherwerb besonders bei Vorschulkindern. „Kassetten kommen den Wiederholungsbedürfnissen kleiner Kinder entgegen. Sie fördern möglicherweise die Kreativität besonders gut, da nur der Hörsinn angesprochen wird - jedes Bild muss im Kopf umgesetzt werden. Und Kassetten machen in aller Regel ein sauberes Sprachangebot mit wohlgeformter Aussprache“, sagte Klimmt in einem Interview mit der ZEIT.
Hörprojekte haben sich Gehör verschafft
Expertinnen und Experten der Leseförderung haben den Zusammenhang von Lesen und Hören schon längst erkannt und so finden sich in der Leseförderungsszene viele Projekte, die sich auch oder sogar in erster Linie darauf konzentrieren, die Welt des Hörens in den Mittelpunkt zu stellen.
Hier drei Beispiele etablierter Projekte: Das bundesweite Schulprojekt „Ohr liest mit“ wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Ursula Lübbe Stiftung organisiert und soll zugleich die Lese- und Hörkompetenz von Kindern und Jugendlichen fördern sowie den kreativen Umgang mit Literatur unterstützen. „Bei Ohr liest mit“ lesen Kinder und Jugendliche gemeinsam Bücher zu einem bestimmten Thema und setzen ihre Lektüre in ein Hörspiel um oder machen sie zur Basis eines Features. Der Wettbewerb „Ohr liest mit“ steht jedes Jahr unter einem anderen Motto. Die Teilnehmer erhalten als Hilfestellung eine themenbezogene Literaturliste für verschiedene Altersstufen sowie eine Anleitung zur Arbeit mit Hörmedien.
„Ohrenspitzer“ heißt ein Projekt des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg, das in erster Linie aber nicht allein für Ganztagsschulen konzipiert wurde. Seit dem Beginn des Schuljahres 2002/2003 bieten 20 Schulen in Rheinland-Pfalz sowie zwei Schulen und eine außerschulische Einrichtung in Baden Württemberg regelmäßig „Hörabenteuer“ im Ohrenspitzer-Format an. In klassenübergreifenden Gruppen können Schülerinnen und Schüler das Hören und Zuhören hier neu entdecken.
Auch die „Stiftung Zuhören“ hat so genannte „Hörclubs“ ins Leben gerufen. Das Projekt „Hörclubs“ widmet sich der Grundkompetenz „Hören und Zuhören“. Das Konzept und Material entwickelten Lehrerinnen, Lehrer sowie Mitarbeiter des Hessischen Rundfunks in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Radio und Schule. Die „Hörclubs“ wurden 1999 zunächst als auf zehn Grundschulen begrenztes Modellprojekt gestartet. Danach bildeten sich knapp 30 hessische Hörclubs. Es kamen zehn bayerische sowie zehn in Thüringen hinzu. Seit dem Schuljahr 2002/2003 wird das Projekt bundesweit durchgeführt. Inzwischen existieren rund 450 Hörclubs in Deutschland. Es gibt viele Möglichkeiten, in der eigenen Einrichtung oder Schule ein solches Projekt zu verwirklichen …
Weitere Informationen finden Sie auf den Webseiten der Projekte.
Autorin: Katja Haug
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