
„Leseförderung ist keine Erfindung der PISA-Zeit“ |
16.02.2006 |
Wilfried Wittstruck zum Thema "Leseförderung in der Lehrerausbildung"
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Prof. Wilfried Wittstruck |
Lesen in Deutschland: Im Kontext der PISA-Studien ist Leseförderung immer wieder in aller Munde. Seit wann und in welchem Ausmaß finden Aspekte der Leseförderung auch in der Ausbildung von Lehrenden ihren Niederschlag?
Wilfried Wittstruck: Leseförderung, sowohl als Verbesserung der Lesetechnik als auch als Sicherung und Entwicklung einer kulturellen Praxis verstanden, ist sicher keine Erfindung der PISA-Zeit. Freilich haben die Debatten nach PISA und IGLU dazu geführt, dass, ausgehend von bereits länger vorliegenden Studien zur Lesesozialisation, sehr konzentriert und anwendungsbezogen Definition, Erfassungsmethoden und Förderung der Lesekompetenz erörtert wurden. Nach meinen Beobachtungen verschließen sich dabei weder die universitären Ausbildungsstätten für angehende Lehrerinnen und Lehrer noch die Studienseminare oder die Fortbildungsinstitute der Länder diesem Thema.
Im Gegenteil: (Fort-)Bildungsangebote sind vorhanden und werden auch genutzt. Die Schwerpunkte liegen zwar aus nachvollziehbaren Gründen bei der Ausbildung von Grund-, Haupt-, und Realschullehrkräften. Lehrpläne verweisen aber inzwischen darauf, dass moderne Jugend- und Adoleszenzromane gerade wegen ihrer gestiegenen literarischen Qualität nun auch im Gymnasialbereich eine Rolle sowohl für die Anbahnung von literar-ästhetischen Kenntnissen als auch zur Stärkung der Lesemotivation spielen sollen.
Lesen in Deutschland: Beim Experten-Roundtable der Stiftung Lesen Ende vergangenen Jahres, an dem neben Vertretern von Leseförderungsinitiativen und Fachleuten aus Länderministerien auch der Bereich der Lehrerbildung vertreten war, wurde kritisch angemerkt, dass in Schulen Leseförderung häufig noch als Aufgabe angesehen werde, für die allein der Deutschunterricht zuständig sei und dass die Lehreraus- und -weiterbildung in Deutschland die Leseförderung nicht immer in angemessener Weise berücksichtige. Lahmt die Reform tatsächlich und woran liegt das?
Wilfried Wittstruck: Wie auf anderen Feldern schulischen Handelns gibt es sicher auch im Falle der Leseförderung Optimierungspotenzial, aber keine Ratlosigkeit. Es wäre auch wenig hilfreich, pauschal „die Lehrerausbildung“ zu kritisieren. Im Sinne einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Ziel wirkungsvoller Unterstützung der angehenden Lehrerinnen und Lehrer kann es aber sehr wohl sein, dem Fragenkomplex nachzugehen, welche konkreten Beobachtungsresultate es sind, die die Lehrerausbildung aufgrund welchen Stichprobenumfanges, in welcher Größenordnung und mit welchem Verständnis von Leseförderung als defizitär oder gelungen ansehen lassen, und zwar im empirischen Sinne und nicht im Sinne einer argumentierten Plausibilität.
Aus meiner Sicht auf den einschlägigen Wissenschaftsbetrieb kann ich sagen, dass trotz der keineswegs immer befriedigenden Rahmenbedingungen derzeit bemerkenswerte Anstrengungen unternommen werden, Leseförderung im Ausbildungsprogramm für angehende Lehrkräfte angemessen zu gewichten. Wenn ich zum Beispiel ein Seminar zum Thema „Leseförderungsprojekte“ anbiete, stelle ich erstens fest, dass ich damit keineswegs ein Solitär bin (an anderen Hochschulen gibt es solche oder ähnliche Angebote schließlich auch).
Ich sehe zweitens ein sehr starkes Interesse gerade von Studierenden älterer Semester mit ersten Praxiserfahrungen: Sie betrachten - bestärkt auch durch Mentoren in den Schulen – Leseförderung als voraussetzungslos notwendig für ihre spätere Tätigkeit. Wir dürfen annehmen, dass diese Studierenden mit positiver Einstellung und mit einem nicht geringen Wissen um den Stellenwert der Leseförderung in der Schule allgemein - nicht nur bezogen auf den Deutschunterricht -, aber auch mit Kenntnissen des methodischen Herangehens in den Vorbereitungsdienst gehen.
Lesen in Deutschland: Viele Experten sagen, Leseförderung sei nicht allein ein Thema für den Deutschunterricht, sondern könne und solle auch in anderen Unterrichtsfächern umgesetzt werden. Wie könnte die Lese- und Sprachförderung in naturwissenschaftlichen Fächern aussehen?
Wilfried Wittstruck: PISA hat auch hier einen Weg insofern gewiesen, als die Studie auch die so genannten „nicht-kontinuierlichen“ Texttypen, in denen zum Beispiel Graphiken, Diagramme, Listen enthalten sind, in die Untersuchung einbezogen hat. Genau diese sind vornehmlich Unterrichtsgegenstände in allen naturwissenschaftlichen und auch musisch-künstlerischen Fächern. Zweckdienlich könnte sicher ein abgestimmtes, über die einzelnen Fachkonferenzen der Schulen hinweg reichendes Vorgehen sein.
Im Übrigen gibt der Deutsche Jugendliteraturpreis jährlich zahlreiche sorgfältig begründete Fingerzeige auf hervorragende Sachbücher, anhand derer in Fächern wie Geographie, Geschichte, Philosophie, Kunst, Musik gelernt werden kann – damit wird das Lesen gespeist aus der Neugier auf bestimmte Sachthemen und kann ohne umständliche Übungen zur Verwendung von Substantiven, Verben, Umstandswörtern gelingen.
Lesen in Deutschland: Wann und wie können Lehrende eine Leseschwäche bei Schülern diagnostizieren?
Wilfried Wittstruck: Erste Hinweise können die inzwischen in vielen Bundesländern im Jahr vor der Einschulung durchgeführten Sprachstandserhebungen und Sprachfördermaßnahmen geben. An ihnen sind neben den Erzieherinnen selbstverständlich Lehrkräfte der Grundschulen beteiligt. Sie können aus dieser Arbeit unmittelbare Erkenntnisse für Ansätze einer in der ersten Klasse anlaufenden individuellen Förderung erhalten. Für sehr hilfreich für die Durchführung von Lesestandserhebungen in späteren Klassen erachte ich das Heft 194 (Nov. 2005) von „Praxis Deutsch“ zum Thema „Lesen beobachten und fördern“.
Lesen in Deutschland: Welche Methoden der Leseförderung geben Sie angehenden Lehrerinnen und Lehren an die Hand?
Wilfried Wittstruck: Es gibt diverse erprobte methodische Ansätze für Leseförderung im Deutschunterricht. Ganz konkret wird den Studierenden an der Universität in Vechta bereits seit 1995 die Möglichkeit gegeben, jährlich ein Lesefest an einer Grundschule zu organisieren und durchzuführen (siehe Alexander Schule Vechta), das von der Stadt und dem Förderverein der Schule unterstützt wird. Dazu gehört die Mitarbeit in Leseförderungsprojekten ebenso wie die Planung von Lesungen. Das ist sicher ein sinnvoller Weg. Studierende lernen, wie wichtig es für eine stabile Lesesozialisation sein kann, eine Lesekultur in und mit einer Schulgemeinschaft zu schaffen.
Doch Methoden sind nicht alles. Sie können schnell ein Eigenleben führen: Nach meiner Auffassung sollte den Studierenden der Lehramtsfächer zuvörderst gezeigt werden, dass es in erster Linie die verwendeten Texte selbst sind, die – zum Beispiel weil sie „Novitätserfahrungen“ thematischer und sprachlicher Art ermöglichen – Leseneugier entwickeln lassen.
Lesen in Deutschland: Glauben Sie Schulen können die Schwächen, die Kinder aus „lesefernen“ Familien oftmals mitbringen, ausgleichen?
Wilfried Wittstruck: Dieses ist vielleicht eine der größten Herausforderungen überhaupt, die Lehrkräften derzeit und in den kommenden Jahren im Unterricht begegnet. Wenn Erst- und Zweitklässler infolge eines vielleicht begrenzt anregenden Deutschunterrichtes und durch wenig angemessene Textauswahl begünstigt eine Phase der „Lesemüdigkeit“ durchmachen, so ist es längst nicht so schwierig, sie wieder zum Lesen zu animieren, als etwa die Kinder, die in bildungsfernen Lernumgebungen, in illiteralen Elternhäusern aufgewachsen sind. Vor allem ist zu bedenken, dass Kinder, die bei Schuleintritt über keine oder nur geringe Vorläuferkompetenzen des Lesens, Schreibens und Rechnens verfügen, dieses Defizit im Laufe der Grundschuljahre und darüber hinaus allenfalls marginal kompensieren können.
Konkret haben es diejenigen Kinder schwer, die nicht über Anfänge „phonologischer Bewusstheit“ verfügen. Das heißt über die Fähigkeit, beispielsweise Sprachrhythmen oder Reime zu erkennen. Deshalb ist es zwingend notwendig, verstärkt Modelle der Zusammenarbeit von Kindertagesstätten, Grundschulen und der Eltern von ganz früh an zu organisieren, damit ein literales Milieu entsteht, wo es Bilderbücher und Kinderbücher gibt, über die dann auch gesprochen wird.
Unter dem Titel „Jugendliteratur macht Schule“ veranstaltet der Arbeitskreis für Jugendliteratur am 16. März 2006 auf der Buchmesse in Leipzig ein Symposium, auf dem Experten über das Potenzial von Bilderbüchern, Unterhaltungsliteratur, Romanen und Sachtexten für die Förderung von Lesemotivation, -kompetenz und des literarischen Lernens im Unterricht speziell für leseungeübte Schülerinnen und Schüler sprechen.
Lesen in Deutschland: Insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund haben Schwierigkeiten, ihre Sprach- und Lesefähigkeit sowohl der deutschen Sprache als auch der des Elternhauses ausreichend zu entwickeln. Findet diese Problematik eine besondere Berücksichtigung in der Lehrerfort- und Ausbildung?
Wilfried Wittstruck: Ja, und zwar konzeptionell, insofern zunehmend bei der Planung von Masterstudiengängen für die Lehrämter über Lehrangebote im Bereich „Deutsch als Fremd- beziehungsweise Zweitsprache“ mit hohem Verpflichtungsgrad beraten wird. Wichtig ist aber generell, die Erkenntnisse zum Beispiel der Sozialwissenschaften und der Deutschdidaktik in Lehrveranstaltungen einzubeziehen. Mit dem Wissen, dass und in welcher Weise gesellschaftliche Teilhabe und Exklusion auf der Grundlage der Lese- und Schreibkompetenz anläuft, wird auch angehenden Deutschlehrern der gesellschaftspolitische Stellenwert ihrer späteren beruflichen Tätigkeit deutlich. Ich selbst achte darauf, dass Studierende bei der Abfassung von Examensarbeiten sich diesem Thema stellen.
Lesen in Deutschland: Sie persönlich übernehmen viele Aufgaben auch in der außerschulischen Leseförderung, so als stellvertretender Vorsitzender des Arbeitkreises für Kinder- und Jugendliteratur. Was denken Sie, wie man eine stärkere Kooperation von außerschulischen Leseförderungsinitiativen und Schule herbeiführen könnte?
Wilfried Wittstruck: Eine stärkere Kooperation setzt zunächst die Bereitschaft zur wechselseitigen Aufgabe von Einzelinteressen wenigstens in Teilen voraus. Wenn weniger gefragt würde, was die jeweilige Initiative an individuellem Imagegewinn, an Aufmerksamkeit, vielleicht auch an Fördergeldern bringt, sondern was im Interesse der Sache notwendig ist, dann kann aus der Bündelung der Initiativen starker Partner eine großartige bundesweite Aktion werden.
Beispielgebend ist vielleicht die Kampagne „Wer liest gewinnt “. Das ist der Titel einer seit bereits über einem Jahr andauernden Bibliotheks-Tour für Schülerinnen und Schüler, die vom Arbeitskreis für Jugendliteratur, dem Deutschen Bibliotheksverband und der „Das Telefonbuch-Servicegesellschaft mbH“ veranstaltet wird. Die nominierten und preisgekrönten Bücher der Sparte „Kinderbuch“ des Deutschen Jugendliteraturpreises gehen hierbei auf Tournee durch zahlreiche Bibliotheken in ganz Deutschland. Kinder der Jahrgangsstufen fünf und sechs lernen bei einem Quiz die Bücher näher kennen. Hier gelingt eine Kooperation zwischen Schulen, Bibliotheken und Initiativen außerschulischer Leseförderung in inzwischen weit über fünfzig Städten.
Zur Person:
Professor Wilfried Wittstruck, geboren 1955, lehrt seit 2005 an der Universität in Vechta im Institut für Anglistik und Germanistik mit dem Schwerpunkt Literaturwissenschaft und Fachdidaktik. In seinen Lehrveranstaltungen behandelt er insbesondere das Thema Leseförderung in der schulischen und vor- sowie außerschulischen Bildung.
Nach dem Studium in Münster von 1974 bis 1979 und Unterrichtstätigkeit in den Fächern Deutsch, Geschichte, Politik an einem Gymnasium in Osnabrück wurde er 1991 an die dortige Fachhochschule für Sozialarbeit und Gesundheitspflege berufen. Von 1997 bis 2004 war er zugleich Rektor der Hochschule. Seit 2000 ist er stellvertretender Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur (AKJ) mit Sitz in München.
Das Interview führte: Katja Haug
Redaktionskontakt: redaktion@lesen-in-deutschland.de