
Stadtteilmütter machen`s vor |
25.01.2006 |
Elterneinbindung als wichtiger Stützpfeiler in der Sprachförderung
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Ein gut organisierter Stadtteil |
In diesem Glauben sind schon viele Eltern enttäuscht worden: Die meisten Kinder aus Migrantenfamilien, die nur wenig oder keine Deutschkenntnisse besitzen, haben geringe Chancen auf einen guten Schulabschluss und gute Noten. Oft reichen ihre Leistungen gerade für die Haupt- oder Sonderschule. Immer mehr Jugendliche verlassen die Schule sogar ohne Abschluss.
Verantwortung wird abgegeben
Bisher gelingt es keiner Institution diese Benachteiligung aufzuheben. Die Eltern sind oft überfordert, sprechen selbst gar nicht oder nur schlecht Deutsch und geben dieses falsch weiter. Ihnen fehlt auch das Wissen darüber, dass sie durch eine gelungene Vermittlung ihrer Muttersprache für die Zweisprachigkeit ihrer Kinder und deren schulischen Erfolg einen großen Beitrag leisten könnten. Die Verantwortung für deren Bildungserfolg sehen sie vielmehr bei den vorschulischen und schulischen Institutionen. In Kindergärten und Schulen hingegen fehlt es an entsprechendem Personal, guten Konzepten, der richtigen Ausbildung oder an Zeit für eine individuelle sprachliche Betreuung. Verantwortung wird auch dort abgewälzt und auf andere Institutionen oder die Eltern übertragen.
Lösungsansatz: Interkulturelle Sprachförderung im Stadtteilnetzwerk
Dieser Missstand erfordert die Suche nach Lösungsansätzen. In Essen ist ein solcher gefunden worden. Dort wurde 1999 vom Büro für interkulturelle Arbeit der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA) ein Projekt ins Leben gerufen, mit dem versucht wird, die verschiedenen Bereiche der Elternbildung und der institutionellen Sprachförderung im Elementarbereich und in Grundschulen in ein Gesamtkonzept einzubinden. Das Projekt „Interkulturelle Sprachförderung im Stadtteilnetzwerk Kita-Elternhaus-Schule“ zielt nach eigener Aussage darauf ab, „ein mehrstufiges Unterstützungs- und Qualifizierungssystem im Stadtteil auf der Basis bestehender sozialräumlicher Kontaktnetze zwischen Kitas, Grundschulen, Selbstorganisationen der Migranten, anderen im Stadtteil wirkenden Institutionen und der RAA/Büro für interkulturelle Arbeit zu schaffen“. Das Büro versteht sich dabei als Impulsgeber, Vermittler und Unterstützer.
Das Projekt orientierte sich an Erfahrungen, die in Rotterdam mit „Elternbildung in der Nachbarschaft“ gemacht wurden, und nahm darüber hinaus Berliner Schulen, die nach dem Konzept der zweisprachigen Alphabetisierung arbeiten und das hessische Modell der koordinierten zweisprachigen Alphabetisierung im Anfangsunterricht (Koala) zum Vorbild. Unter Einbeziehung des Elternhauses wurde im Rahmen des Projektes in der dreijährigen Modellphase so erfolgreich der Spracherwerb gefördert, dass die Stadt Essen beschlossen hat, das Programm flächendeckend zu etablieren.
Die „Stadtteilmütter“
Das Projekt gliedert sich in fünf Bausteine, die u.a. die Elemente Elternbildung, Sprachförderung in Elementar- und Primarbereich und die Vorbereitung Jugendlicher auf künftige Elternrollen umfassen.
Das Kernstück der Elternbildung im Elementarbereich ist das Stadtteilmütterprojekt nach Rotterdamer Vorbild: Einzelne Migrantenmütter werden im Stadtteil für die Arbeit mit anderen Müttern und für die Zusammenarbeit mit der Kita und der Grundschule qualifiziert. Damit stehen die Förderung und Aktivierung der Eigenpotenziale von Migranteneltern im Mittelpunkt des Programms. Migrantinnen werden als Elternanleiterinnen ausgebildet. Sie eignen sich für diese Rolle, wenn sie zweisprachig sind, selbst Kinder haben und ihre Kinder die Kindertagesstätte besuchen, in der sie andere Mütter anleiten, wenn sie sich im Stadtteil gut auskennen und von den Frauen, die sie „unterrichten“, anerkannt werden.
Das Rucksack-Programm
Die „Stadtteilmütter“ leiten einmal in der Woche für zwei Stunden eine Müttergruppe von fünf bis sieben Müttern. In dieser Zeit bespricht die „Stadtteilmutter“ mit den anderen Müttern das Programm für die ganze Woche, nach dem jede Mutter zu Hause mit ihren Kindern spielen, basteln und lesen soll. Grundlage bilden die Rotterdamer Materialien, die mit Unterstützung von EU-Geldern auf deutsche Verhältnisse übertragen wurden. Der so genannte „Rucksack“ enthält Lieder, Gedichte, Spiele und andere Aktivitäten zur Anregung der Sprache und Entwicklung. Die Kinder werden mit Hilfe dieser Anleitungen von ihren Müttern in ihrer Muttersprache gefördert. Die Projektleiter gehen davon aus, dass ihnen das Erlernen der Zweitsprache im Kindergarten leichter fällt, wenn sie ihre Muttersprache gut beherrschen. Die Erzieherinnen behandeln zeitgleich dieselben Themen in der Kita auf Deutsch. Auf diese Weise soll die zweisprachige Entwicklung der Kinder angeregt werden. Die Themen wechseln regelmäßig und umfassen Bereiche wie die Jahreszeiten, Essen und Trinken oder die häusliche Umgebung.
Die Kinder sind begeistert. Ihre Mütter sind engagiert und nehmen sich viel Zeit für sie. Dass zuhause gebastelt, gesungen, gelesen und gemeinsam gebacken wird, ist für viele Kinder neu. Die Aufmerksamkeit, die ihnen ihre Mütter jetzt entgegenbringen, tut ihnen gut und regt ihre motorische, emotionale und kognitive Entwicklung an. Eltern bestätigen, dass sich der Spracherwerb ihrer Kinder erheblich verbessert hat.
Zusätzlich zum Rucksack-Programm finden im Kindergarten oder in der Kita zweimal in der Woche Spracheinheiten von etwa 20 Minuten Länge statt. In ihnen werden die Kinder ihrem Sprachstand entsprechend spielerisch in der deutschen Sprache gefördert. Auch diese Spiele kommen aus dem gleichen Themenbereich, den die Mütter nachmittags mit den Kindern behandeln.
Zweisprachige Alphabetisierung in der Grundschule
Im Primarbereich wird ähnlich verfahren. In einigen Essener Grundschulen lernen Kinder nicht deutscher Herkunft gleichzeitig beide Sprachen. Um eine Überforderung zu vermeiden, werden Buchstaben und Laute im „Reißverschlussverfahren eingeführt und Interferenzen methodisch aufgearbeitet“… „In Anlehnung an die Konzepte aus den Berliner und Hessener Schulen werden zunächst die gleichen Laute und Buchstaben eingeführt, dann die in den Schriftsprachsystemen verschiedenen“, so die RAA. Im Unterricht werden die Kinder von einer zusätzlichen muttersprachlichen Lehrkraft durch gezielte Kommunikationssituationen und Übungen unterstützt. Auch im Schulprogramm wird viel Wert auf die Einbindung der Eltern gelegt und die Mitarbeit aller im Stadtteil vorhandenen Organisationen vom Türkischen Elternverband bis zum Fußballverein gesucht.
Interkulturelles Lernen
In Essen hat man mit diesem Ansatz gute Erfahrungen gemacht. Die gleichzeitige Präsenz beider Sprachen macht interkulturelles Lernen zu einem ganz natürlichen Prozess. Alle Kinder erfahren Mehrsprachigkeit als normal und Kinder mit Migrationshintergrund fühlen sich aufgewertet. Vor allem die intensive Einbindung der Eltern hat dazu geführt, dass diese sich jetzt mehr für die Bildungskarrieren ihrer Kinder interessieren, sie besser unterstützen können und eine engere Zusammenarbeit zwischen Kita, Schule und Eltern entstanden ist.
Ein Projekt, das Vorbildcharakter hat und dazu beitragen kann, die Bildungsbenachteiligung von Kindern nicht deutscher Herkunft abzuschwächen.
Autorin: Petra Schraml
Redaktionskontakt: schraml@digitale-zeiten.de