
Wie Fernsehgucker begeisterte Leser werden |
23.11.2005 |
„Mentor – die Leselernhelfer“: Hannovers Antwort auf PISA macht bundesweit Schule
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Leselernhelfer (rechts Otto Stender) |
Rettung ereilte das Buch und die augenscheinlich niedergehende Lesekultur unter den Kindern und Jugendlichen völlig unerwartet. Die Rettung hatte einen mehrdeutigen Namen: PISA. Die Schulleistungsstudie der OECD attestierte den deutschen 15-jährigen Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich einen eklatanten Mangel ausgerechnet in der Lesekompetenz. Etwas war in eine prekäre Schieflage geraten in einem Land, das sich als Kulturnation verstand und sich ein teures, aber offensichtlich ungerechtes Bildungssystem leistete.
Vom Kämpfen gegen Windmühlen
Ein Ross brachte den passionierten Reiter und Leser Otto Stender mit dem Mädchen Vanessa zusammen. „Wenn man Buchhändler ist, kennt man nur lesende Menschen. Die Welt der Nichtleser bleibt einem verborgen“, erläutert Stender. Vanessa, die das Pferd des Buchhändlers pflegte, brachte keine guten Startchancen mit: Aufgewachsen mit fünf Geschwistern und einer Mutter, die Sozialleistungen bezog, besuchte sie zunächst die Hauptschule. Bald fiel dem heute 68-jährigen Buchhändler auf, dass Vanessa zwar der Umgang mit Pferden leicht fiel, das Lesen und Verstehen von Texten aber nicht.
Stender erinnerte sich an den Befund der Shell-Jugendstudie, die Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien erhebliche Lesedefizite bescheinigte. Dahinter verbargen sich viele Ursachen, aber eine besonders große Rolle spielte das Fernsehen, das über die Zeit und die Kommunikationsweisen in solchen benachteiligten Familien herrscht: Täglich vier Minuten Redezeit verbleibt in sozial schwachen Familien. Und nicht nur in diesen: „Setzen Sie sich mal in die Straßenbahn, die Kinder reden in Floskeln und sind doch irgendwie sprachlos“, so der Buchhändler aus Hannover. Einmal mehr gewahrte Stender den Kampf des Buchmenschen gegen die Windmühlen der Konsumgesellschaft, bis ihn ein Geistesblitz ereilte: „Jugendbuchautor Wolfgang Hänel hatte in der ‚Hannoverschen Allgemeinen’ einen Artikel zu der Frage geschrieben, wie man Kinder zum Lesen motiviert“. Damit war der Schlüssel zu „Hannovers Antwort auf PISA“ gefunden.
Wie sich das Blatt wendete
Buchmensch Stender betont: „61 Prozent der Jugendlichen haben noch nie freiwillig ein Buch gelesen“. Vanessa las ja auch nicht die Bücher, mit denen Stender sie großzügig versorgte. Es kam also darauf an, das Lesen durch Leselernhelfer erst schmackhaft zu machen. „Mentor – die Leselernhelfer“, wie sich der im März 2003 gegründete Verein nannte, stellte ein Team aus ehrenamtlichen Lesetutoren auf die Beine, das sich um benachteiligte Schülerinnen und Schüler kümmerte. In der Anfangsphase des Vereins wurden viele Schulen angesprochen – das war für Stender eine zuweilen undankbare und mühsame Aufgabe. Als man aber auf einer Pressekonferenz gezielt die Werbetrommel rührte, bescherte dies dem Verein auf Anhieb 100 zusätzliche Lesetutoren. „Der Grundgedanke war, einen neuen Generationenvertrag zwischen dem älteren Bildungsbürgertum und einer heranwachsenden Jugend zu schmieden, die schlechte Lebenschancen mit auf den Weg bekam“.
Nicht nur der PISA-Schock, auch die gezielte Ansprache der Medien zeitigte rasche Wirkung. Mit der Idee der Leselernhilfe für acht- bis sechzehnjährige Kinder und Jugendliche hatten Stender und seine Mitarbeiter zur richtigen Zeit den richtigen Nerv getroffen. „Mentor“ rechnete der Öffentlichkeit die Kosten für Schulversagen vor: „Einmal sitzen bleiben, kostet den Staat 8476 Euro. Ein durch eine Mentorin verhinderter Sonderschul-Besuch bewahrt womöglich vor einem Leben in der Sozialhilfe“. Mit solchen und anderen bundesweit lancierten Informationen schaffte es der Verein, sich in 30 Städten über die Stadtgrenzen von Hannover hinaus auszubreiten und bekannt zu machen. Im Kampf gegen Windmühlen besaß der Verein fortan nicht mehr einen elenden Klappergaul, sondern ein zu Kräften gekommenes stattliches Ross.
Der Klappergaul kommt zu Kräften
Nach eineinhalb Jahren Öffentlichkeitsarbeit hat der Verein bundesweit 650 Leselernhelfer gewonnen, die 1000 Kinder an rund 120 Schulen betreuen: „Freiwillige Lesehelfer sind ein kostbares Gut. Sie müssen von einer kompetenten Organisation liebevoll begleitet werden, damit ihr Engagement nicht nach kurzer Zeit erlahmt“, beschreibt „Mentor – die Leselernhelfer“ die Notwendigkeit für eine nachhaltige ehrenamtliche Organisationsstruktur.
Nun geht es endlich in Galopptempo voran: Anfang 2006 ist die Gründung eines Bundesverbandes geplant. „Wir entwickeln uns kontinuierlich über Hannover hinaus“, bekräftigt Stender. Sobald man eine „richtige Organisation“ geworden ist, die von den großen Kommunen Büros und Infrastruktur gestellt bekommt, erhofft man sich auch finanzielle Unterstützung vom Land Niedersachsen und vom Bund: „Wenn wir eine pressure group geworden sind, treten wir den Politikern auf den Hühnerfuß.“
Kann der Ex-Kanzler Leselernhelfer werden?
Ein Kanzler als Leselernhelfer? Politiker, die sich von der großen Bühne verabschieden, könnten echte Aushängeschilder und Publikumsmagneten für ehrenamtliche Leseinitiativen werden. Wenn am Dienstag, dem 22. November Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin gewählt worden ist, muss sich Gerhard Schröder neue Aufgaben als Privatmann suchen.
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Gerhard Schröder |
In diesem Fall würde Schröder vermutlich eine der vielen Schulen in Hannover besser kennen lernen, an denen die Lesetutoren bevorzugt eingesetzt werden. „Lehrer wollen sich von Laien nichts sagen lassen. Viele fördern ja mit uns zusammen erstmals ein einzelnes Kind“, gibt Stender zu bedenken. Einem Leselernhelfer Gerhard Schröder, der vor seinem Einsatz eine Fortbildung bei der Akademie für Leseförderung besucht hätte, würde solches schwerlich widerfahren. Dort lernen Leselernhelfer, mit den Lehrkräften zu kooperieren und Kinder zu fördern, ohne die Lehrer vor den Kopf zu stoßen.
Individuelle Leseförderung à la carte
Leselernhelfer sind keine Hilfssheriffs. Ein- bis zweimal die Woche trainieren sie individuell mit den leseschwachen Schülerinnen und Schülern für 45 bis 60 Minuten ausschließlich Lesefähigkeit, Textverständnis und freies Reden. Die eigens von den Lehrerinnen und Lehrern ausgewählten Kinder und Jugendlichen werden in Schulräumen, Bibliotheken und anderen öffentlichen Räumen im Lesen so geschult, dass sie ihr Interesse an altersgemäßen Texten entdecken. Es gibt auch regelmäßige Teamsitzungen zwischen den Lesetutoren und den Klassenlehrerinnen und Lehrern, die den Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler und die Teamarbeit reflektieren: individuelle Förderung à la carte. Dabei sind laut Stender „Geduld, Langmut und Zuwendung“ gefragt.
Buchhändler und Lesementor Otto Stender geht zwar auf ein rüstiges Alter zu, doch das Wort ‚aufhören’ gehört, wie beim Ritter von der traurigen Gestalt Don Quichotte, nicht zu seinem Lieblingsvokabular: „Wenn ich mal aus dem Himmel runterschaue, wünschte ich mir, dass zwischen 50.000 und 100.000 Menschen sich für diese Mentorenarbeit engagieren.“ Vanessas Aufblühen in der Schule gibt Otto Stender immer wieder Recht. Nicht nur, dass sie den Sprung in die Realschule geschafft hat und statt Fünfen nun lauter gute Zweien in Deutsch und Physik abräumt, ist eine große Genugtuung für Otto Stender. Heute traut sich Vanessa sogar das Abitur zu. Und dann, ja dann möchte sie selbst Lehrerin werden. Was läge näher, als dass sie dann selber aus lauter notorischen „Fernsehern“ begeisterte Leserinnen und Leser machte?
Autor: Peer Zickgraf
Redaktionskontakt: schraml@digitale-zeiten.de