Bericht

Absturzgefahr-Kino

25.08.2005

„Rolltreppe abwärts“: Ein Jugendbuch macht im Kino Karriere


 

Hauptdarsteller Timo Rüggeberger, Fotograf: Dirk Jürgensen
Hauptdarsteller Timo Rüggeberger, Fotograf: Dirk Jürgensen
„Habent sua fata libelli“. Seit jeher haben Bücher ihr eigenes Schicksal geführt, so ähnlich lautet die Übersetzung des Zitats. Manche steigen – dank der Leserinnen und Leser – strahlend in den Olymp auf, um ebenso rasch wieder in düsterer Versenkung zu verschwinden, manche schaffen den Durchbruch durch einen Medienwechsel. Andere wie „Rolltreppe abwärts“ von Hans Georg Noack, das als Jugendbuch bereits in Millionenauflage erschienen ist, müssen erst beweisen, dass aus ihnen auch gutes Kino werden kann.

Eben diesen Beweis lieferten am 7. Juli 2005 fünf aufgeweckte Schüler im kleinen Kinosaal des Instituts für Film- und Fernsehwissenschaft der Universität zu Köln, die dort ihren Film „Rolltreppe abwärts“ präsentierten. Dass das bescheiden und familiär wirkende Kino ausgerechnet im Keller des Instituts liegt, schuf eine schöne Analogie zum Thema des Schülerfilms. „Es ist schon eine tolle Sache, wenn alles so gut klappt“, sagte Dr. Matthias Bickenbach vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Uni Köln anlässlich der Einführung des Films. Von der Idee zur Buchverfilmung bis hin zur Realisierung des Projektes: Alles stammte aus einer Hand, war pure Eigenleistung der Schüler.

Auf der Suche nach sich selbst
Der Film erzählt das Schicksal eines Underdog namens Jochen, dem das Leben keine Chance gibt. Der Ausbruch aus seiner kaputten Familie muss logischerweise misslingen. Jochen macht frühe Bekanntschaft mit dem rauen Straßenleben und einem falschen Freund, der ihn für sich klauen lässt und den verzweifelten Jochen dann ins Messer der Kaufhausdetektive rennen lässt. Von dort führt der Weg in ein Erziehungsheim, dass Leiter Hameln mit Heimtücke und Zynismus in ein perfides Quälcamp verwandelt hat: „Wir sind für Hameln der Abschaum der Menschheit“, erkennt der hoffnungslose Protagonist. Seine Versuche, im Jugendheim auf einen geraden Weg zurück zu finden, scheitern alle an Hamelns Sadismus – und auch an Jochen selbst. So wird er wider Willen zum Schwerkriminellen und die Rolltreppe abwärts führt mit kühler Präzision in die düsteren Keller der Gesellschaft: Jugendheim, Straßenleben, Gefängnis.

„Überwachen und Strafen“
Der 70-minütige Film überzeugt durch „sein hohes Tempo mittels schneller Schnitte und durch komplizierte Filmmontagen, so genannte Jump cuts“ sagte Dr. Nikolai Wojtko vom Institut für Film und Fernsehwissenschaften und Mitorganisator der Filmvorführung. Anders als das Buch konzentriere sich der Film aber auf die Hauptperson Jochen. „Es war eine gute Idee, den Film auf Jochen zuzuschreiben“, lobte Bickenbach die professionell auftretenden Schüler in der Diskussion. Außer zu den Filmen Stanley Kubricks sieht Bickenbach auch Parallelen zu dem Buch „Überwachen und Strafen“ des französischen Philosophen Michel Foucault. Darin schildert Foucault die Institution Gefängnis, Krankenhaus oder Heim und Schule als moderne Machttechnik.

Wenn Schüler philosophische Themen aus dem Medium Buch in den Film übersetzen, brauchen sie dafür glaubwürdige Schauspieler. Mit Timo Rüggeberger, 15 Jahre, war ihnen eine gute Besetzung gelungen, vielleicht sogar eine Entdeckung. „Jeder von uns hat bestimmte Härten, wie sie Jochen im Leben widerfuhren, selbst erlebt“, sagte Rüggeberger. In Schulen zum Beispiel, in denen Kinder und Jugendliche häufig auf die schiefe Bahn gerieten, wenn ihrem problematischen sozialen Hintergrund aus Armut und Bildungsferne nicht Rechnung getragen werde.

Medienwechsel: Aus Jugendbuch wird gutes Kino

Filmemacher und Hauptdarsteller im Gespräch
Filmemacher und Hauptdarsteller im Gespräch
Die Erwachsenenfiguren in dem Film wurden dagegen von gestandenen Profis gespielt: Die ‚schwarze’ Pädagogik mit ihren anmaßend rigiden Erziehungsmethoden Hamelns wurde überzeugend von Jürgen Haug verkörpert, während die gleichermaßen destruktiven Erziehungsmethoden von Jochens Mutter, sanft, aber heuchlerisch, von der Schauspielerin Diana-Maria Breuer glaubwürdig gespielt wurden.

Geld gab es für die Schüler- und Profischauspieler nicht zu verdienen, es mussten ja erst einmal die Sponsorengelder aufgetrieben werden. Vermutlich hat die sofortige Zustimmung des Buchautors Hans-Georg Noack zu dem Kinoprojekt die Finanzierung erleichtert: „Der ganze Film beruht auf Sponsorengeldern und die Drehgenehmigungen haben wir umsonst bekommen“, sagte der 18-jährige Regisseur Dustin Loose. Dass sein Jugendbuch „Rolltreppe abwärts“ von Jugendlichen als Kinostreifen inszeniert werden sollte, hat den Buchautor besonders angesprochen. Mit einem Gesamtbudget von rund 150 000 Euro musste der Film innerhalb von nur elf Tagen im Kamerakasten stecken.

„Habt ihr wirklich nackt geduscht?“
„Rolltreppe abwärts“ wurde eigens für Schulklassen im Bonner Filmpalast „Woki“ aufgeführt. Dort stieß der Film aus Sicht von Loose auf ein sehr positives Echo. Die Fragen seien differenziert gewesen: „Habt ihr wirklich nackt geduscht?“, wurde er von Schülerinnen und Schülern gefragt. Interesse rief auch der Hauptdarsteller hervor oder rein technische- oder Finanzfragen. Viele staunten auch darüber, dass man ein Buch so spannend als Kinofilm inszenieren kann.

„Für die Schülerinnen und Schüler ist die Geschichte sehr nah an ihrer eigenen Realität“, sagte Drehbuchautor Martin Backhaus. Die Filmcrew hat sich dies zunutze gemacht und für Schulklassen, die eine Kinovorstellung im „Woki“ besuchen, didaktisches Begleitmaterial erstellt, das erst durch die Kenntnis des Buches und des Filmes fundiert bearbeitet werden kann. Die Fragen verdeutlichen, welche Stärken jeweils das Medium Buch und das Medium Film haben und wie unterschiedlich sich damit Handlungen in Szene setzen lassen. Eine Aufgabe lautet: „Vergleiche die Szene im Buch mit der Szene im Drehbuch. Inwiefern unterscheiden sich Drehbuch- und Romantext?“

Akute Absturzgefahr
In der Kinoversion gewinnt Jochens Absturz eine beklemmende Dramatik, die die Gefahr eines rasanten sozialen Abstiegs für immer breitere Bevölkerungsteile scharf zum Ausdruck bringt. Genau dies war am 7. Juli 2005 auch der zentrale Gegenstand der Diskussion, an der sich außer der fünfköpfigen Filmcrew viele Studentinnen und Studenten im Kinosaal engagiert beteiligten.

Studentinnen und Studenten bei der Filmvorführung
Studentinnen und Studenten bei der Filmvorführung
Viele Jugendliche fühlen sich von dem Film und dem Thema angesprochen“, bemerkte eine Studentin. Es sei aber nicht nur die Gesellschaft, die die schwachen Menschen bedrohe, daran erinnert Jungschauspieler Rüggeberger die Zuschauer: „Auch Jochen macht viele Fehler. Ich kenne eine Menge junge Leute, die ähnlich krass drauf sind.“

Die Sensibilität für kleine soziale Katastrophen greift in den gegenwärtigen Krisenzeiten auch bei den Studierenden um sich: „Probleme, wie der Zerfall von Familien betreffen zunehmend die Mittelschichten“, so die nüchterne Einschätzung einer anderen Studentin.

Ein Manko des Films wurde aber darin gesehen, dass er auf den typischen Szenejargon und auf Jugendsprache komplett verzichtet. Das sind allerdings kleine Kunstfehler, die Jugendliche offenbar nicht abschrecken, denn „Rolltreppe abwärts“ hat im Filmpalast „Woki“ eine kleine Sensation geschafft: Der Schülerfilm behauptet sich seit Wochen unangefochten vor „Batman“ und anderen Blockbustern aus Hollywood. Das Medium Film beschert vielen Büchern nicht nur eine zweite Chance, sondern häufig auch ein neues Leben.   

Autor: Peer Zickgraf


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