
Lesekompetenz: „Führerschein für die Datenautobahnen der Zukunft“ |
17.08.2005 |
Lesekompetenz beinhaltet grundlegende kognitive Fähigkeiten, die für den Umgang mit allen Medien wichtig sind.
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Lesen am Rechner, Quelle: Photocase |
Der Schweizer Medienexperte Heinz Bonfadelli verweist in seinen Studien zur „Wissenskluft“ immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Lesehäufigkeit und Medienkompetenz. Demnach können Menschen, die häufig Bücher lesen auch Hörfunkjournalen und Fernsehsendungen komplexere Informationen entnehmen.
Das gleiche gilt auch für Texte im Internet; denn die entwickelte Lesekompetenz erschöpft sich nicht im „linearen Abtasten eines Textes (dem klassischen ´sinnerfassenden Lesen`), sondern schließt eine Vielzahl selektiver Techniken der Informationssuche, -entnahme und Speicherung mit ein,“ sagt Gerhard Falschlehner in seiner Publikation „Generation echt“. Kinder und Jugendliche, die sich diese umfassende Lesekompetenz aneignen, werden sich nicht nur in gedruckten Texten, sondern auch in den Hypertexten des Internets besser zurecht finden.
Die PISA-Studie wurde diesem Umstand gerecht, indem sie neben linearen Texten, also Erzählungen, Beschreibungen und Anweisungen ganz besonders den bisher in schulischen Zusammenhängen vernachlässigten, nicht-linearen Texten eine besondere Bedeutung zugemessen hat. Auf nicht-lineare Texte wie Grafiken, Tabellen und Diagramme, stoßen Kinder und Jugendliche sehr häufig. Die mediale Realität hat sich verändert und fordert die Lesefähigkeit im ganz besonderen Maße.
Lese- und Medienkompetenz müssen zusammengedacht werden
Medienkompetenz wurde im vergangenen Jahrzehnt oft als Bildungsziel angestrebt und die stärkere Betonung der Lesekompetenz wird daran nichts ändern. Denn Lese- und Medienkompetenz sind eng miteinander verzahnt und müssen auch in didaktischer Hinsicht zusammengedacht werden. Und doch tritt heute das Thema Medienkompetenz auch bei PISA hinter dem der Lesekompetenz etwas zurück, auch aufgrund der Erkenntnis, dass naturwissenschaftliche und mathematische Leistungen in direktem Zusammenhang mit der Leseleistung stehen.
Die bevorzugte Behandlung der Lesekompetenz in Bildungszusammenhängen geschieht aus Sicht vieler Leseforschungs-Experten vollkommen zu Recht, da zahlreiche aktuelle Untersuchungen nahe legen, dass der bessere Leser auch immer der bessere Mediennutzer sei. Dr. Ulrich Wechsler, Vorstandvorsitzender der Stiftung Literaturhaus, stellt in einem Artikel, der Süddeutschen Zeitung die provokante Frage: „Hat jemand schon mal ein Kind gesehen, das Fahrrad fahren konnte, bevor es laufen gelernt hatte?“ und plädiert dafür, sich auf die Leseförderung zu konzentrieren.
Leser sind die kompetenteren Mediennutzer
Zur Lesekompetenz gehört das Verstehen abstrakter Schriftzeichen, von Wörtern, Sätzen sowie größeren Textzusammenhängen, „die das Wissen und das Weltwissen der Leser oft aufs Äußerste fordern“, sagte die Kölner Professorin
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Lesende Frau am Strand, Quelle: Photocase |
Schriftliche Umwelt im Wandel
Lesen ist eine Form von Rezeption, bei der der Lesende ganz bewusst über die Aufnahme des Angebots entscheidet. Doch das gemütliche Lesen auf dem Sofa mit einem Buch oder einer Zeitung in der Hand tritt in Hintergrund und findet eher in der Freizeit statt. Die Lese- und Schreibkompetenz wird nicht nur aufgrund der Begegnung mit der Vielfalt der neuen Medienwelt wichtiger, sie wird auch mit Blick auf die Veränderung des Charakters der schriftlichen Umwelt bedeutender. So ist eine der vielen Auswirkungen der neuen Medien, die das Lesen im engeren Sinne betreffen, die Veränderung der Schriftsprache durch Medien wie das Internet.
So werden Informationen öfter im Internet abgerufen und seltener aus Büchern entnommen. Jugendliche werden zunehmend mit Texten im Internet konfrontiert - mit Hypertexten, die in einer Navigationsstruktur verschachtelt und mit Bildern, Zeichen und Animationen versehen sind. Oft müssen sie so Bild, Tonsignal und Text aufnehmen und in einem Gesamtzusammenhang verarbeiten. Man spricht in diesem Fall von einer Zeichen-Multivalenz beziehungsweise von Botschaften, die auf verschiedenen Ebenen vermittelt werden.
Auch deshalb legte die PISA-Studie nahe, das schulische Spektrum an Textsorten konsequenter als bisher durch nicht-lineare Texte zu erweitern. Damit geraten mediale Texte stärker in den Mittelpunkt, denn die meisten medial verbreiteten Texte wie Anzeigen, Tabellen, Formulare, Logos, Schaubilder, Abbildungen, Grafiken oder Hypertexte gehören der nicht-linearen Textsorte an.
Multifunktionale Übersetzungsleistungen des Lesens
Der kognitive Prozess des Lesens wird durch Antizipation und Hypothesenbildung charakterisiert. Was heißt, dass die Bedeutung von Wörtern im Kontext ermittelt, Satzkonstruktionen erfasst und Verknüpfungen im Text realisiert werden. Die Zeichen-Multivalenz von Hypertexten setzt ein hohes Maß an Lesefähigkeit voraus, weil Lesekompetenz auch kognitive Grundfähigkeiten beinhaltet, die zur Übersetzung der Zeichen notwendig sind.
Viele Botschaften werden mehrkanalig dargestellt und erfordern ein so genanntes „selektives Decodieren“, ein sinnhaftes, gezieltes Übersetzen. Der Leseförderungs-Experte Gerhard Falschlehner meint: „Selbst die Weiterentwicklung der Piktogrammsprachen (etwa auf PC-Benutzeroberflächen) oder die Entwicklung von Voicerecordern können Literalität nicht ersetzen: Komplexe Inhalte und elaborierte Codes werden sich auch weiterhin nur schriftgebunden übermitteln lassen.“
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Text im Internet, Quelle: Photocase |
Wirksamste Medienpädagogik bleibt Leseförderung
Das Darstellen und Festhalten komplexer medialer Inhalte und somit jeder komplexe Lernvorgang lässt sich im Sinne Falschlehners nur schriftgebunden darstellen. Zudem vermittelt und trainiert das Lesen Fähigkeiten, die allgemein für die Wahrnehmung und Nutzung von Zeichensystemen grundlegend sind. So das allgemeine Konzentrationsvermögen, die Fähigkeit der optischen Differenzierung im Sinne der Unterscheidung von Zeichen und der Verknüpfung verschiedener Bedeutungsebenen.
Klar ist: Ohne ausgeprägte Lesefähigkeit bleibt beispielsweise der effiziente Einsatz des Computers mit all seinen Möglichkeiten der Informationsabfrage und -speicherung unmöglich. Somit ist der beste Weg zur Medienkompetenz immer noch eine gezielte Leseförderung. Und das nicht zuletzt auch deswegen, weil die Leserinnen und Leser gewohnt sind, aus dem Gesehenen eigene Schlüsse zu ziehen, sich denkend durch die mediale Wirklichkeit zu bewegen.
Klar ist aber auch: Möchten wir Kindern des „Multimedia-Zeitalters“ Lesen als Schlüssel zur Medienkultur vermitteln, ist es sinnvoll, ihnen die Zugänge zu Leseangeboten zu bieten, die für sie besonders interessant sind. Viele elektronische Medien gehören nicht nur zwangsläufig zu ihrem Alltag, sondern üben auch eine ungeheure Faszination auf Kinder und Jugendliche aus. Diese Attraktivität der neuen Medien ist Herausforderung und Chance für neue Förderstrategien der Lesekompetenz.
Autorin: Katja Haug
Redaktionskontakt: redaktion@lesen-in-deutschland.de