
In die literarische Welt hineinwachsen |
06.07.2005 |
Frühe literarische Sozialisation und Lesebiografien – eine Einführung
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Ein Fingerspiel?
Quelle: Photocase |
Gerade literarischen Texten kommt eine besondere Bedeutung zu. So erfordert Literatur eine eingehende emotionale und kognitive Auseinandersetzung mit Inhalten, wie sie bei pragmatischen oder rein unterhaltungsorientierten Texten nicht gefordert sind. Literarische Texte fördern ganz besonders Fantasie und Mündigkeit und beziehen die Lesenden in die Sinngebung ein.
Zu wenig Beachtung frühkindlicher Erfahrungen
Im Zusammenhang mit Lesekompetenz stoßen wir auf zahlreiche Begriffe, die sich in Praxis und Forschung etabliert haben. In der PISA-Vergleichsstudie ist Lesekompetenz mehr als nur lesen können. Dort wird darunter die Fähigkeit verstanden, Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen, sie in einen größeren Zusammenhang einordnen und sachgerecht nutzen zu können.
Andere Experten der Leseforschung verstehen das Konzept „Literacy“, für das es in der deutschen Übersetzung keinen entsprechenden Begriff gibt, umfassender. Es beinhaltet sowohl die Dimensionen Lese- und Schreibkompetenz, als auch die Erzählkompetenz. So verstanden, gibt es lernende Literacy schon im frühen Kindesalter. Dazu gehören alle „kindlichen Erfahrungen rund um das Buch, um Erzähl-, Reim- und Schriftkultur“, so Dr. Manuela Ulich vom Bayerischen Staatsinstitut für Frühpädagogik. „Das wird in Deutschland leider viel zu wenig gesehen“, beklagt Ulich. Der Begriff der literarischen Sozialisation könnte das bei PISA erkennbare Verständnis von Lesekompetenz sinnvoll ergänzen …
Familien und Kitas vermitteln im Alltag den ersten Zugang
„Dass Leseförderung in den ersten Lebensjahren für den Spracherwerb und die Lesekompetenz sehr wichtig sind,“ ist laut Ulich unmissverständlich erwiesen. Dabei ist frühe literarische Sozialisation in der Familie nach Meinung von Prof. Bettina Hurrelmann, Arbeitsstelle für Leseforschung und Kinder- und Jugendmedien an der Kölner Universität, die wichtigste Instanz der Lesesozialisation. Denn hier finden Lernprozesse selbstverständlich und alltäglich statt. Sie sind nicht geplant und passieren beim Vorlesen, Mitlesen, in Gesprächen über Bücher oder aber auch im Austausch über Gehörtes und Gesehenes. Dies sei nicht nur eine Idealvorstellung familialer Lesekultur, sondern beschreibe eine soziokulturelle Realität, von der Kinder in ihrer Entwicklung nach wie vor massiv profitierten, so Hurrelmann. Auch PISA-Autoren haben dies erkannt: „Familiäre Lesesozialisation baut auf alltäglichen Kommunikationsformen auf ...“, stellt das deutsche PISA-Konsortium 2001 fest.
In der Vorschulzeit kann die familiäre Lesesozialisation durch Kindertagesstätten eine wichtige Ergänzung erfahren. Hier können die literarischen Erfahrungen aus der Familie nicht nur aufgegriffen, sondern auch in Richtung der literarischen Sozialisation in der Schule weiterentwickelt werden.
Forschen für Leseförderung – Erkunden literarischer Sozialisation
Unter dem Begriff der literarischen Sozialisation versteht man das durch gesellschaftliche Institutionen beeinflusste Heranwachsen von Leserinnen und Lesern. Dabei hat der Begriff große Schnittmengen mit dem der „Lesesozialisation“: Während sich „Lesesozialisation“ auf den Umgang mit Printmedien aller Art bezieht, zielt die „literarische Sozialisation“ auf die literarische Kultur im engeren Sinne.
Die Erforschung der literarischen Sozialisation ist ein Themenschwerpunkt der Literaturwissenschaft, der sich in den vergangenen zwanzig Jahren etabliert hat und sich mit dem quantitativen und qualitativen Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen, auch unter den Bedingungen der Medienkonkurrenz, auseinandersetzt. Dieses Wissenschaftsgebiet mit seinem besonderen Augenmerk auf dem Verhältnis von Lesen und der Nutzung anderer Medien jeglicher Art gehört auch für Pädagogen und Deutschdidaktiker unbestritten zu den theoretischen Grundlagen einer wirksamen Leseförderung.
Kinder prozessorientiert in die Bücherwelt einführen
Die Entwicklung von Lesekompetenz ist als prozesshaft zu begreifen. Aus diesem Grund eignen sich Begriffe wie Lesesozialisation oder literarische Sozialisation gut, um die kindlichen Erfahrungen mit Schrift und Schriftlichkeit und somit auch das Reden über Literatur zu beschreiben. Dr. Jörg Steitz-Kallenbach von der Gesellschaft für Kinder- und Literaturforschung schreibt im „Handbuch Kinderliteratur“: „Unter literarischer Sozialisation verstehen wir den Prozess, innerhalb dessen ein Subjekt vor allem zwei Fähigkeiten entwickelt: Literatur für sich zu nutzen und sie als Kunstform zu verstehen.“ Diese Kompetenz, Literatur für sich gewinnbringend zu nutzen, könne heißen, dass man Literatur zur Entspannung liest, dass man Fragen begegnet, die einen bewegen oder gar bestimmen und dass man auch Antworten auf diese Fragen findet. Literatur könne den Kindern helfen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen, indem sie sich in die fiktiven Personen einfühlen.
Ein Lernbereich der literarischen Sozialisation ist es also, Literatur zur Informationsbeschaffung, bis hin zur eigenen Weiterbildung, aufgabenorientiert zu nutzen. Der zweite und hier wichtigere Lernbereich bezieht sich auf die Fähigkeit, Literatur nach ihren eigenen Gesetzen zu verstehen. Denn in diesem Kontext erlernt der Mensch elementare Kulturtechniken und ist so in der Lage, an der Kultur einer Gesellschaft aktiv Teil zu haben. Diesen Prozess des Hineinwachsens in die literarische Welt nennt man auch Enkulturation.
Emil Grünbär´s Zimmer als ästhetisches Erlebnis
So ist Literatur eine Kunstform, die eigenen Gesetzen folgt und eine bestimmte Form hat. Bilderbücher bilden die Realität nicht einfach realistisch ab, sondern gestalten sie. „Und gerade da, wo sich Unterschiede zwischen der `literarischen´ und der `außerliterarischen´ Realität auftun, können Irritationen entstehen“, so Steitz-Kallenbach. Eben diese Irritationen seien aber Qualitätsmerkmale der Literatur. Durch sie würden kognitive und emotionale Erlebnisse in Gang gesetzt und so ästhetische Erfahrungen gemacht.
Deshalb sei es wichtig, bewusst mit diesen Irritationen umzugehen. So würde es wenig Sinn machen, so Steitz-Kallenbach, „Janoschs Gestaltung von Innenräumen einfach Chaos und mangelnden Realitätssinn vorzuwerfen, denn in welchem Zimmer sieht es schon so aus, wie in dem von Emil Grünbär und welches Hühnernest ist ein Bett, in dem der Hahn mit drei Hühnern nächtigt?“ Demnach sei es ein Ziel literarischer Sozialisation, Literatur auch als „Gemacht“ verstehen zu können.
Erinnerungen als Rückblick für den Ausblick
Wie erlebten wir diese Begegnungen mit Sprache, Bildern und literarischen Texten? Wie erfahren sie Kinder und mit welchen Auswirkungen? Um dem auf den Grund zu gehen, eignet sich die qualitative Methode der so genannten „Lesebiografien“. Sie geben Auskunft darüber, welche Lesestoffe bevorzugt und welche frühen Erfahrungen mit Kinderliteratur gemacht wurden. Lesebiografien stellen bis heute eine immens wichtige Datenquelle dar, deren Erforschung für den Bereich der Leseförderung interessante Ergebnisse erbringt. „Bei diesen Lesebiografien handelt es sich um autobiographische Skizzen, in denen meist jugendliche oder erwachsene Personen sich an die Lesestoffe ihrer Kindheit und Jugend erinnern“, sagt Steitz-Kallenbach. Auch die Bedeutung des Lesens im Verlauf der Biografie und ebenso die Szenen des Lesens selbst, Situationen, in denen gelesen oder vorgelesen wurde, werden festgehalten und beschrieben oder durch Interviews ermittelt, dokumentiert und analysiert.
So erinnern sich viele Erwachsene an die Fingerspiele, Reime und so genannten Kniereiter (Hoppe, Hoppe, Reiter), aber auch an Bilderbücher und Märchen ihrer Kindheit, also an kulturelle Güter, die von einer Generation zur nächsten weiter gegeben werden. Ebenso bedeutsam wie die Inhalte ist aber die aufgrund der engen Beziehung zwischen dem Kind und der Bezugsperson oftmals als lustvoll erlebte erinnerte Szene.
Lesebiografisches als Reflektionswerkzeug und als Methode
Auch für Erzieherinnen ist die Beschäftigung mit ihren biografischen Wurzeln wichtig. Denn so können sie nacherleben, welche vergleichbaren Erfahrungen die Kinder in ihrer Einrichtung machen. Außerdem spielt die eigene literarische Sozialisation eine wichtige Rolle für die Motivation und die Fähigkeit zur Leseförderung. „Sich dies bewusst zu machen, ist Teil der professionellen Arbeit,“ sagt Steitz-Kallenbach. Werner Wintersteiner von der Universität Klagenfurt stellt fest, „dass das Erforschen der Lesebiografie erlaubt, sich über einen Teil der Persönlichkeit bewusst zu werden und Lesen als Gegenwelt zu erfahren, wodurch man erst zur Leserin oder zum Leser wird.“ Auch er unterstreicht die Unerlässlichkeit lesebiographischer Aspekte für die Lesedidaktik.
Jutta Kleedorfer fügt in dem Artikel „Lesen ist Gegenwart – Lesebiographien als didaktische Methode“ einen weiteren für Praktiker der Leseförderung wichtigen Aspekt hinzu: „Die Leseentwicklung erfolgt nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen.“ So wie es die Sechsjahreskrise gäbe, so sei auch der Lesekrise am Ende der Kindheit besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es sei eine wesentliche Aufgabe der Schule, in der „literarischen Pubertät“ eine stabile Lesekarriere aufzubauen. Viele Gründe also, sich als Pädagogin oder Pädagoge sowohl mit der eigenen Lesebiografie als auch mit der Leseentwicklung der zu betreuenden Kinder auseinanderzusetzen. Aber auch für Nicht-Expertinnen und Nicht-Experten ist die literarische Sozialisationsforschung eine faszinierende Angelegenheit, denn wer hätte gedacht, dass sich aus dem Fingerspiel mit dem Daumen und den Pflaumen solch interessante wissenschaftliche Ableitungen herausschütteln lassen?
Autorin: Katja Haug
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