
PISA hat Leseschwäche offenbart |
15.06.2005 |
Zum Stand der Lesekompetenz deutscher Kinder und Jugendlicher
![]() |
Zeichnung von Franka Musche |
Die PISA-Studie
Die PISA-Studie wird in Projektzyklen in den Jahren 2000, 2003 und 2006 im Auftrag der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) durchgeführt und von einem Internationalen Konsortium unter Leitung des Australian Council for Educational Research (ACER) koordiniert. Die Nationale Projektleitung für Deutschland liegt beim Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel. Im Jahr 2000 lag der Schwerpunkt auf der Lesekompetenz. 2003 stand Mathematik im Mittelpunkt, 2006 werden es die Naturwissenschaften sein. Anhand der Ergebnisse der Studie sollen Aussagen darüber getroffen werden können, wie gut Schülerinnen und Schüler auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet sind. Auf der Basis der grundlegenden, vergleichenden Forschung können die einzelnen Länder ihre Bildungssysteme dann verbessern.
Ergebnisse der PISA-Studie 2000
Auffällig ist die große Streuung der Leistungen in Deutschland. Der Abstand zwischen den Ergebnissen der leistungsschwächsten und der leistungsstärksten Schülerinnen und Schüler ist breiter als in allen anderen Teilnehmerstaaten. Deutsche Jugendliche haben bei PISA 2000 besonders hinsichtlich der Interpretationsfähigkeit unterdurchschnittlich abgeschnitten. Bei Aufgaben, die das Reflektieren und Bewerten von Texten erfordern, ist die mittlere Leistung in Deutschland sehr niedrig und die Leistungsstreuung ausgeprägt. Der Anteil von Schülerinnen und Schülern in Deutschland, die lediglich die Kompetenzstufe I (unterste Leistungsstufe) erreichen, liegt bei 13 Prozent; fast zehn Prozent erreichen nicht einmal diese Stufe. Damit kann fast ein Viertel der Jugendlichen nur auf einem elementaren Niveau lesen (Der Durchschnitt der OECD-Staaten liegt bei 18 Prozent). Im Hinblick auf selbstständiges Lesen und Weiterlernen sind diese Schülerinnen und Schüler als potenzielle Risikogruppe zu betrachten. Im oberen Leistungsbereich werden in Deutschland hingegen nur durchschnittliche Ergebnisse erzielt. Gerade einmal neun Prozent der Schülerinnen und Schüler schafft die höchste Kompetenzstufe V. Dieser Anteil ist mit dem Mittelwert der OECD-Mitgliedsstaaten vergleichbar. Fast die Hälfte der Jugendlichen, die nicht einmal die Kompetenzstufe I erreichen, ist in Deutschland geboren, hat in Deutschland geborene Eltern und spricht in der Familie deutsch.
Drei Jahre später
Auch bei PISA 2003 gab es vergleichbare Probleme. Die Lage im internationalen Vergleich hat sich zwar leicht verbessert, da Deutschland nun im internationalen Durchschnittsbereich liegt, substantielle, d.h. statistisch abgesicherte Verbesserungen der Lesekompetenz können aber nicht festgestellt werden. Vor allem ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer mangelnden Lesekompetenz kaum Chancen auf eine nachfolgende Ausbildung und gesellschaftliche Teilhabe haben, mit fast einem Viertel unverändert groß.
Die IGLU-Studie
Im Gegensatz zur PISA-Studie schnitten die deutschen Schülerinnen und Schüler, die bei IGLU, der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung, geprüft wurden, besser ab. PIRLS/IGLU ist eine Studie der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA), die international vergleichend das Leseverständnis von Schülerinnen und Schülern der vierten Jahrgangsstufe testet. Unter den beteiligten 35 Staaten lag Deutschland, das mit einer Stichprobe von rund 10.000 Schülerinnen und Schülern in 246 Schulen mit je zwei Klassen an der Untersuchung teilnahm, im oberen Leistungsdrittel. Auch die Leistungsunterschiede sind nicht so gravierend. Rund zehn Prozent der Schüler müssen der so genannten Risikogruppe (unter der zweiten von vier Kompetenzstufen) zugeordnet werden. Der Anteil der Spitzenschüler (in der vierten Kompetenzstufe) liegt immerhin bei 18 Prozent.
Lesekompetenz
Das Konzept der Lesekompetenz, an dem sich PISA und IGLU orientieren, stammt aus der angelsächsischen literacy-Tradition. Mit reading literacy wird die Fähigkeit bezeichnet, Lesen in unterschiedlichen, für die Lebensbewältigung praktisch bedeutsamen Verwendungssituationen einsetzen zu können. Lesekompetenz ist damit mehr als einfach nur lesen können. Sie ist „ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele, Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten und Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben,“ so das PISA-Konsortium. Geprüft wird vor allem bei PISA, inwieweit Schülerinnen und Schüler in der Lage sind, geschriebenen Texten gezielt Informationen zu entnehmen, die dargestellten Inhalte zu verstehen und zu interpretieren sowie das Material, das heißt kontinuierliche Texte wie Erzählungen, Beschreibungen oder Anweisungen aber auch nicht kontinuierliches Material wie Tabellen, Diagramme oder Formulare inhaltlich und formal zu bewerten.
Jugendliche lesen nicht gerne
Warum Schülerinnen und Schüler eines Landes gute oder nicht so gute Leistungen im Lesen erzielen, hängt immer von mehreren Faktoren ab. In Deutschland ist unter anderem ein Zusammenhang zwischen dem Leseinteresse sowie den Lesegewohnheiten und der Lesekompetenz zu beobachten. Der Anteil der Jugendlichen, die bei der PISA-Studie angegeben haben, nicht zum Vergnügen zu lesen, ist mit 42 Prozent besonders hoch. In der Gruppe der Jungen beträgt der Anteil sogar fast 55 Prozent. Auch die im Jahr 2000 von der Stiftung Lesen durchgeführte Studie zum „Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend“ bestätigt eine starke Verminderung der Lesehäufigkeit gerade bei den 14- bis 19-Jährigen. Dabei sind kleinere Kinder durchaus noch für das Lesen zu begeistern. „Nur meist nicht durch ihren Deutschunterricht“, behauptet Professorin Karin Richter von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Die Universität Erfurt befragte in der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten „Studie zur Entwicklung von Lesemotivation bei Grundschülern“ im Mai und Juni 2001 rund 1200 Schüler von 24 Erfurter Grundschulen sowie deren Eltern und Deutschlehrer. Danach sinkt das Interesse in den ersten Schuljahren rasant. Karin Richter schätzt, dass der Deutschunterricht wenig Folgen für den Aufbau einer Lesemotivation hat, weil die Literaturauswahl und die Art der Literaturbehandlung an den Interessen junger Menschen vorbeigehen. Schon die 1995/1996 durchgeführte Befragung „Öffentliche Bibliothek und Schule“ der Bertelsmann Stiftung zeigt eine kontinuierliche Abnahme der Leseintensität in den höheren Altersgruppen, wobei zwei „Leseknicks“ festgestellt werden: Der erste Einbruch erfolgt zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr, der zweite zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr.
Jungen lesen schlechter als Mädchen
Besonders auffällig ist auch, dass Mädchen – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in allen 32 von der OECD getesteten Staaten – nicht nur lieber, sondern auch besser lesen als Jungen. Eine regelmäßig durchgeführte repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung, das „Lesebarometer“, identifiziert eindeutig die Frauen als Vielleser. Auch wenn PISA bewusst keine Ursachenforschung betreiben, sondern nur eine Bestandsaufnahme machen wollte, drängt sich den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein Erklärungsmodell auf, so Prof. Dr. Christine Garbe von der Universität Lüneburg: „Die besseren Leseleistungen der Mädchen hängen zusammen mit ihrer deutlich größeren Lesemotivation und der daraus resultierenden umfangreicheren Lesepraxis.“ In Deutschland entspricht der Leistungsvorsprung der Mädchen ungefähr einer halben Kompetenzstufe und ist in etwa mit der über alle OECD-Staaten gemittelten Differenz vergleichbar. Insgesamt sind die Jungen auf den unteren Kompetenzstufen (I und darunter) deutlich überrepräsentiert und auf den oberen Kompetenzstufen (IV und V) unterrepräsentiert.
Aufgabe: Lesefreude steigern
Im Mittelpunkt der Bemühungen in der Leseförderung sollten danach Projekte stehen, die die Lesefreude und Lesemotivation steigern. Der österreichische Pionier der Leseförderung Richard Bamberger empfiehlt das Lesen am Stück einzuführen und jede Woche ein Buch zu lesen, anstatt eine oft mehrere Wochen hindurch auf kleine Abschnitte aufgeteilte „Behandlung“ eines Buches. Getreu dem Motto „Viele Schüler lesen keine Bücher, weil sie nicht (richtig) lesen können; sie können nicht (richtig) lesen, weil sie keine Bücher lesen,“ geht es seiner Ansicht danach, zunächst die Steigerung der Leseleistung, ausgedrückt in der Lesegeschwindigkeit (WpM =Wörter pro Minute) und in dem Prozentsatz der Sinnerfassung zu erreichen. Leichtigkeit und Spannung eines Buches sollten den Ausschlag bei der Buchauswahl geben. Erst wenn eine wesentliche Verbesserung der Lesetechnik erreicht ist, sollte auch die „Qualität des Lesens“ verbessert werden, wozu eine gewisse Kritikfähigkeit zu entwickeln ist. Um das ehrgeizige Projekt zu erreichen, schlägt er vor, dass ein Lehrer oder auch ein Schüler den Anfang eines Buches bis zu der Stelle vorliest, wo der Text anfängt, sehr spannend zu werden. Die Schüler, neugierig geworden, lesen dann gerne in der Schule und auch zu Hause weiter. Ein „Leserpass“, in den die Schüler jedes gelesene Buch eintragen und je nach Gefallen mit 1 bis 5 bewerten, könnte das Vorhaben erleichtern. Die österreichischen Schüler, bei denen dieser „Lesepass“ eingeführt wurde, waren begeistert, weil sie aus den regelmäßig abgenommenen Tests ersehen konnten, wie ihre Leseleistung mit der Zahl der gelesenen Bücher angestiegen war.
Autorin: Petra Schraml
Redaktionskontakt: schraml@digitale-zeiten.de