
Lesekompetenz durch pandemische Situation gesunken |
27.07.2022 |
Auszüge des 9. nationalen Bildungsberichts
Titelseite des Bildungsberichts © wbv Media |
Erste übergreifende Bilanz zu Auswirkungen der Corona-Pandemie
„Viele Trends und Problemlagen, auf die vorherige Bildungsberichte hingewiesen haben, sind weiter aktuell. Die Corona-Pandemie hat den Blick hierfür geschärft und zugleich das Bildungsgeschehen erheblich beeinflusst. Wenngleich die Folgen noch nicht vollständig absehbar sind, erlaubt die Systematik des Bildungsberichts eine erste übergreifende Bilanz“, sagt Professor Dr. Kai Maaz, der Geschäftsführende Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.
Die Entwicklung der Lesekompetenz wird ebenfalls in einigen Kapiteln des Berichts aufgegriffen. Wir veröffentlichen nachfolgend Auszüge aus den Kapiteln C 1 „Frühe Bildung und Betreuung: Bildung in der Familie“ (S. 86-93) sowie C 4 „Frühe Sprachkompetenz“, aus Kapitel D 6 „Allgemeinbildende Schule und nonformale Lernwelten im Schulalter: Kognitive Kompetenzen“ (S. 152-157) als auch aus Kapitel I 14 „Bildungsverläufe, Kompetenzentwicklung und Erträge: Nichtmonetäre Erträge“ (S. 351-356).
Zusammenfassend lässt sich bereits erkennen, dass die Lesekompetenz der Viertklässler*innen im Vergleich zu den Daten aus dem Jahr 2016 abgenommen hat und die Bildungsunterstützung während der Corona-Pandemie überwiegend von Müttern übernommen wurde. Zu einer der beliebtesten Aktivitäten zwischen Müttern und Kindern zähle auch das Vorlesen. Gerade das regelmäßige Vorlesen verbessere die Wortschatzbildung nachhaltig und schließlich zeigt der diesjährige Bildungsbericht, dass eine gute Lesekompetenz auch im Erwachsenenalter zu einer höheren Lebenszufriedenheit beiträgt.
Bildung in der Familie
Der Frühen Bildung liegt seit jeher ein weites Bildungsverständnis zugrunde, wie es auch die meisten Bildungs- und Erziehungspläne der Länder festhalten (Kapitel C2). Die kindliche Entwicklung von beispielsweise sozialen, kognitiven oder motorischen Fähigkeiten erfolgt über die Auseinandersetzung mit den alltäglichen Dingen des Lebens. So finden Bildungsprozesse in der frühen Kindheit nicht nur über explizite Lerngelegenheiten wie Vorlesen oder Zahlenspiele statt, sondern werden vor allem in den Alltag integriert und meist „nebenher“ vermittelt. Bildung in der frühen Kindheit ist dabei vielfach in ein typisches Ineinander von (Bildungs-), (Betreuungs-) und Erziehungsprozessen eingebettet (S. 88).
Innerhalb der Familie können gemeinsame Eltern-Kind-Aktivitäten zu einer höheren bildungsbezogenen Anregungsqualität beitragen. Einen wesentlichen Impuls stellt das Vorlesen dar; aber auch gemeinsame Aktivitäten wie Basteln oder Singen sowie Ausflüge können informelle Bildungsprozesse im Familienalltag fördern. Sowohl Studien mit deutschen als auch US amerikanischen Daten verdeutlichen zudem, dass der familiale Anregungsgehalt auch von der in der Kindertagesbetreuung vorherrschenden Qualität beeinflusst wird (Kuger et al., 2019; Lehrl et al., 2014). Kinder, die am stärksten von einer hohen Kita Qualität profitieren würden, erfahren jedoch die geringsten Verbesserungen in der familialen Anregungsqualität. So können die pandemiebedingten Kita Schließungen vor allem bei denjenigen Kindern zu eingeschränkten Bildungsprozessen beigetragen haben, die auch zu Hause eine geringe Anregungsqualität vorfinden (S. 89).
Vorlesen ist die häufigste Mutter-Kind-Aktivität
Wie sich innerfamiliale (Bildungs-)Aktivitäten während der Pandemie unter veränderten (Bildungs-) und Betreuungsarrangements entwickelt haben, lässt sich anhand des AID:A Surveys darstellen. Ein direkter Vergleich der gemeinsamen Aktivitäten, die Mütter mit ihren 2 bis unter 6-jährigen Kindern in den Jahren 2019 und 2021 durchgeführt haben, zeigt in allen erhobenen Aktivitäten – sowohl analogen als auch digitalen – eine deutliche Zunahme (Abb. C1-3). Der generelle Anstieg an gemeinsamen Mutter-Kind-Aktivitäten in den Jahren 2019 bis 2021 kann ein Hinweis auf die Kompensation der pandemiebedingt ausgefallenen Kindertagesbetreuung durch Mütter sein. Prozentual den größten Zuwachs verzeichnen digitale Aktivitäten: Die gemeinsame Computernutzung verdoppelte sich in dieser Zeitspanne nahezu und auch die Internetnutzung nahm deutlich zu. Jedoch verbleiben diese beiden Aktivitäten auch 2021 in der Altersgruppe der (2) bis unter 6-jährigen auf einem erstaunlich niedrigen Gesamtniveau.
Die mit Abstand häufigste Mutter-Kind-Aktivität „Vorlesen“ erfuhr in den 2 Jahren noch einmal eine Zunahme auf zuletzt durchschnittlich 24 Tage pro Monat. Aber auch das Fernsehen hat in dieser Zeitspanne zugenommen und fand 2021 an durchschnittlich 15 Tagen im Monat statt. Während das Vorlesen mit höherem Alter abnimmt, steigt der Fernsehkonsum diametral dazu an. Jedoch ist die Differenz beim Vorlesen 2021 zwischen (2-) und unter 6-Jährigen nicht so stark ausgeprägt wie vor der Pandemie. Insbesondere Vorlesen und Fernsehen sind zwei Faktoren, die vor allem bei jüngeren Kindern einen Einfluss auf den Spracherwerb ausüben. Eine internationale Studie konnte während der Lockdownzeiten nachweisen, dass mit häufigerem Vorlesen und geringerem Fernsehkonsum bei unter 3-Jährigen ein erhöhter Wortschatzzuwachs einherging (Kartushina et al., 2022).
Auch nach dem Geschlecht des Kindes ergeben sich Unterschiede in der Häufigkeit des VorlesensWährend 2019 noch keine geschlechtsspezifischen Differenzen erkennbar waren, wurde Mädchen während der Pandemie an durchschnittlich 2 Tagen im Monat häufiger vorgelesen als Jungen. Dieser Unterschied bleibt auch unter Kontrolle der elterlichen Bildung sowie einer möglichen Erwerbstätigkeit der Mutter bestehen. Beim Fernsehen zeigen sich zu beiden Zeitpunkten keine signifikanten Geschlechterunterschiede. Mit der Berufstätigkeit der Mutter variiert auch das Vorlesepensum insofern, als erwerbstätige Mütter ihren Kindern häufiger vorlesen als erwerbslose – ein Effekt, der auch unter Kontrolle des höchsten elterlichen Bildungsstands bestehen bleibt. Jedoch nähert sich das Vorleseverhalten von erwerbslosen Müttern im Jahr 2021 an das erwerbstätiger Mütter an: Während erwerbslose Mütter 2019 noch durchschnittlich 4 Tage im Monat seltener vorlasen, waren es im Jahr 2021 nurmehr im Mittel 3 Tage weniger. In Bezug auf Fernsehen zeigen sich keine größeren Unterschiede nach der Müttererwerbstätigkeit (Tab. C1-8web) (S. 90-91). Je nach elterlichem Bildungshintergrund variiert das gemeinsame Fernsehen; mit höherem Bildungsabschluss der Eltern fällt die Häufigkeit geringer aus. Jedoch gleichen sich im Jahr 2021 die Unterschiede im Fernsehverhalten je nach Bildungsniveau der Eltern an. Beim Vorlesen zeigen sich die entgegengesetzten Effekte: Mit höherem Bildungsniveau der Eltern wird auch mehr vorgelesen. Im Jahr 2021 haben sich die Unterschiede zwischen niedrigem und hohem Bildungsniveau noch verschärft: Zwar wurde auch Kindern von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss 2021 mit 19 Tagen im Monat an durchschnittlich 1 Tag häufiger vorgelesen als noch 2019, jedoch lasen höher gebildete Mütter ihren Kindern 2021 an 26 Tagen im Monat und damit an durchschnittlich 3 Tagen pro Monat häufiger vor als noch 2019.
Durch die pandemiebedingte Verlagerung der frühen Bildung in das häusliche Umfeld wurde der familiale Bildungshintergrund noch bedeutsamer für die frühen Bildungsimpulse. Die Familie wurde insbesondere während der Lockdowns zum nahezu alleinigen Bildungsort und die familiale Anregungsqualität ausschlaggebend für die Förderung der kindlichen Entwicklung. Infolgedessen führten – ähnlich wie bei Schulkindern (vgl. D5) – die „feinen Unterschiede“ familialer Voraussetzungen erneut zu unterschiedlichen Bildungssettings und verstärkten Bildungsungleichheiten. (S. 91).
Wortschatzbildung und Sprachförderung im frühen Kindesalter
Daten zu den sprachlichen Kompetenzen von Kindern vor der Einschulung liegen für Deutschland nicht in standardisierter Form vor, da die Länder unterschiedliche Verfahren der Sprachstandsdiagnostik anwenden. Daher werden für die Analyse von individuellen Entwicklungsverläufen Daten des NEPS herangezogen. Im Zentrum der Analysen steht die Frage, ob sich die Entwicklung der Sprachkompetenzen je nach Kontextbedingungen unterscheidet. So wird an die Analysen im Bildungsbericht 2014 angeknüpft, in dem die frühen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen bei 5-Jährigen der Startkohorte 2 „Kindergarten“ analysiert wurden. Die hier dargestellten Auswertungen beziehen sich auf die Startkohorte 1 „Neugeborene“, deren rezeptiver Wortschatz im Alter von etwa 3, 5 und 7 Jahren erfasst wurde.
Während sich bei Betrachtung der sprachlichen Kompetenzen bei 3-Jährigen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede finden, entwickeln sich diese bei Jungen und Mädchen im Zeitverlauf deutlich auseinander. So ist der Wortschatz von Mädchen mit 7 Jahren – auch unter Kontrolle des elterlichen Bildungsniveaus und weiterer Hintergrundfaktoren – signifikant höher als der von Jungen (Tab. C4-8web). Auch im Verlauf der Grundschule scheinen sich diese Geschlechterunterschiede zu verfestigen (vgl. I2). In den aktuellen Analysen zeigt sich – ähnlich wie im Bildungsbericht 2014 –, dass die Wortschatzentwicklung mit der sozialen Herkunft korrespondiert. So wiesen Kinder aus Elternhäusern mit hohem Bildungsabschluss in jedem Alter einen höheren deutschen Wortschatz auf als Kinder von Eltern mit niedrigerem Abschluss (Abb. C4-2). Auch wenn alle 3 Gruppen im Zeitverlauf von 4 Lebensjahren denselben Zuwachs um etwa 15 Kompetenzpunkte verzeichnen, führt derselbe Zuwachs bei unterschiedlichem Ausgangsniveau jedoch auch zu Beginn der Grundschule zu einem deutlichen Gefälle in Abhängigkeit vom höchsten Bildungsabschluss der Eltern. Zudem ist zu beachten, dass der Wortschatz insbesondere zum 1. Messzeitpunkt eine hohe Streuung aufweist und einzelne Kinder in der jeweiligen Gruppe folglich auch höhere oder niedrigere Werte erreichen. Diese unterschiedlichen Entwicklungen verfestigen sich je nach sozioökonomischem Status der Kinder in der Grundschulzeit (vgl. I2) (S. 110).
Vorlesen hat großen Einfluss auf die Wortschatzentwicklung
Die familiale Förderung, die u. a. in der Häufigkeit des Vorlesens zum Ausdruck kommt (C1), hat sowohl auf das Ausgangsniveau des Wortschatzes als auch auf dessen Entwicklung einen wesentlichen Einfluss. Kinder, denen täglich oder sogar mehrmals am Tag etwas vorgelesen wird, verfügen über einen überdurchschnittlichen Wortschatz und erzielten im Zeitverlauf auch die höchsten Zuwächse. Demgegenüber hatten Kinder, denen einmal in der Woche oder noch seltener vorgelesen wurde, mit 3 Jahren – auch unter Kontrolle des elterlichen Bildungsniveaus und weiterer Faktoren – bereits einen unterdurchschnittlichen Wortschatz. Bei diesen Kindern stieg der Wortschatz bis zum 8. Lebensjahr im Durchschnitt geringer. Allerdings wird dem Großteil der Kinder im Alter von 5 Jahren täglich oder zumindest mehrmals wöchentlich vorgelesen. Während sich sowohl beim Bildungsstand der Eltern als auch bei der Familiensprache die anfänglichen Unterschiede im Sprachniveau über die Zeit fortsetzten und so zu einem ähnlichen Zuwachs des Wortschatzes im Zeitverlauf führten, zeigen sich beim Migrationsstatus sowohl ein unterschiedliches Ausgangsniveau als auch heterogene Zuwächse (Tab. C4-8web). Kinder mit einem zugewanderten Elternteil konnten ihren leicht unterdurchschnittlichen Wortschatz im Alter von 3 Jahren am stärksten steigern. Kinder mit zwei zugewanderten Elternteilen sowie selbst zugewanderte Kinder starteten mit einem unterdurchschnittlichen Wortschatz, den sie im Zeitverlauf nicht so stark verbessern konnten. Erst nach Kontrolle der Familiensprache und des familialen Bildungshintergrunds ergeben sich im Wortschatz von 7-Jährigen keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen Kindern mit einem zugewanderten Elternteil und Kindern ohne Migrationshintergrund. Der Wortschatz von Kindern mit zwei zugewanderten Elternteilen verbleibt signifikant niedriger als bei Kindern ohne Migrationshintergrund (S. 111).
Leistungsbezogene Entwicklungen während der Corona-Pandemie bei Grundschüler*innen
Vor dem Hintergrund der Anfang 2020 einsetzenden pandemiebedingten Einschränkungen von Schule und Unterricht (D1) ist anzunehmen, dass sich der nachgezeichnete negative Trend fortsetzen könnte. Wie die Kompetenzentwicklung während der Corona-Pandemie verläuft, lässt sich für Deutschland bisher nur sehr begrenzt und vor allem für jüngere Schüler:innen empirisch abbilden, da nicht nur national und international angelegte Studien, sondern auch die bundeslandspezifischen Lernstandserhebungen ausgesetzt oder verschoben wurden. Bundesweit stellt nur die IFS-Schulpanelstudie repräsentative Daten bereit, die zeigen, wie sich die Lesekompetenzen von Viertklässler:innen im Jahr 2021 gegenüber 2016 unterschieden. Mit Hamburg und Baden-Württemberg haben 2 Bundesländer bislang Ergebnisse zu den Schulleistungen während der Pandemie veröffentlicht (S. 153).
Die Analysen der IFS-Schulpanelstudie basieren auf Daten von insgesamt 4.290 Viertklässler:innen aus 111 Schulen in ganz Deutschland, die 2016 bzw. 2021 den Lesekompetenztest IGLU bearbeiteten. Im Ergebnis fallen die mittleren Leseleistungen im Juli 2021 signifikant niedriger aus als 5 Jahre zuvor (-20 Kompetenzpunkte). Dieser Unterschied entspricht etwa einem halben Lernjahr (vgl. Ludewig et al., 2022a). Unter Berücksichtigung der Veränderungen in der Zusammensetzung der Schülerschaft seit 2016 verkleinert sich diese Lücke etwas, bleibt jedoch statistisch bedeutsam. Der mittlere Kompetenzrückgang geht mit Verschiebungen zwischen den Kompetenzniveaus einher: So ist sowohl der Anteil an Grundschüler:innen, die (sehr) gut lesen können, gesunken als auch der Anteil derjenigen, die die Mindeststandards nicht erreichen, gestiegen (vgl. Ludewig et al., 2022a). Auch die auf Lernstandserhebungen basierenden landesspezifischen Befunde zeigen für Kinder der 3. Jahrgangsstufe (Hamburg) und der 5. Jahrgangsstufe (BadenWürttemberg) etwas geringere Kompetenzen in Lesen und Mathematik als in den Jahren zuvor (für Hamburg: Depping et al., 2021; IfBQ, 2022; für Baden-Württemberg: Schult et al., 2021). Die Daten für Baden-Württemberg deuten darauf hin, dass die Leistungseinbußen 2021 im 2. Jahr der Pandemie geringer ausfielen als im Jahr 2020 (vgl. Schult et al., 2021). Dies dürfte auf die Anpassungsleistungen aller am Lernprozess Beteiligten zurückzuführen sein (vgl. ebd.) [...] Wie gut Schüler:innen mit der neuen Lernsituation während der Zeit ohne Präsenzunterricht zurechtkommen, steht neben übergeordneten Rahmenbedingungen wie beispielsweise der technischen Ausstattung zu Hause (D5), der Breitbandanbindung ihres Wohnortes oder der Organisation des Distanzunterrichts (D1) auch mit verschiedenen individuellen Voraussetzungen in Zusammenhang.
Distanzunterricht verschärfte soziale Disparitäten
NEPS-Daten deuten beispielsweise darauf hin, dass bei Schüler:innen der 8. Jahrgangsstufe die Anstrengungsbereitschaft eine wichtige Rolle während der Schulschließungen spielte: Je höher die Anstrengungsbereitschaft, desto besser konnten die Jugendlichen nach Elterneinschätzungen die Anforderungen des Distanzlernens bewältigen (Abb. D6-2). Auch die individuellen Lesekompetenzen spielen für das Lernen zu Hause eine Rolle, denn je besser die Schüler:innen im Kompetenztest zum Leseverständnis abgeschnitten hatten, desto besser kamen sie ein gutes Jahr später mit dem Distanzunterricht zurecht (S. 154). [...] Hinweise auf eine zusätzliche Verschärfung der sozialen Disparitäten durch die Corona-Pandemie finden sich zum einen im internationalen Forschungskontext: Erste Studien deuten auf differenzielle Auswirkungen in den schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen in Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft hin (Zierer, 2021; Hammerstein et al., 2021). Zum anderen lassen sich für Deutschland erste Aussagen dazu anhand der Daten der IFS-Panelstudie treffen: Kinder mit ungünstigen häuslichen Lernbedingungen (kein eigener Schreibtisch und kein Internetzugang) zeigen 2021 eher noch schwächere Leseleistungen als 2016. Die Zunahme der Leistungsdifferenz gegenüber Kindern mit günstigeren Lernbedingungen ist jedoch statistisch nicht bedeutsam (Ludewig et al., 2022a). Darüber hinaus liegen vergleichende Befunde auf Einzelschulebene vor, wonach die Lernrückstände während der Corona-Pandemie an Schulen in sozial herausfordernden Lagen besonders groß sind (Schult et al., 2021; Behörde für Schule und Berufsbildung, 2021; IfBQ, 2022) (S. 156-157).
Lesekompetenz hat Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit im Erwachsenenalter
Kompetenzen im Erwachsenenalter werden als Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben gesehen. Da sie unterschiedliche Lebensbereiche betreffen, gelten insbesondere die Lesekompetenz und mathematische Kompetenzen als zentrale Basiskompetenzen. Zusammenhänge zwischen Kompetenzen und Lebenszufriedenheit Erwachsener im Alter von 29 bis unter 73 Jahren (M = 52,5 Jahre) lassen sich mit NEPS-Daten der Erwachsenenkohorte analysieren. Auf einer Skala von 0 (= ganz und gar unzufrieden) bis 10 (= ganz und gar zufrieden) liegt die selbsteingeschätzte Lebenszufriedenheit der Erwachsenen durchschnittlich bei 7,7 Skalenpunkten, was einer hohen Lebenszufriedenheit entspricht (Tab. I4-4web). Die mathematischen Kompetenzen weisen unter Berücksichtigung weiterer Merkmale keinen Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit Erwachsener auf. Die Lesekompetenz jedoch hängt mit der Lebenszufriedenheit zusammen: Eine gesteigerte Lesekompetenz geht mit einer höheren Lebenszufriedenheit einher (Tab. I4-5web). Eine besondere Rolle spielt der Bildungsstand: Ein höherer Bildungsabschluss weist einen engeren Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit Erwachsener auf als die Lesekompetenz (Abb. I4-2) (S. 353). Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass sich das Ausmaß der Lebenszufriedenheit auf einem relativ stabilen Niveau bewegt und sich in der Regel nicht deutlich oder nur für eine begrenzte Zeit verändert (z. B. Eid & Diener, 2004). Lesekompetenz leistet dabei – neben Faktoren, die mit einem höheren Bildungsstand einhergehen – einen eigenständigen Beitrag zur Lebenszufriedenheit im Erwachsenenalter. Offenbar weist Lesekompetenz einen engeren Zusammenhang zur Lebenszufriedenheit auf als mathematische Kompetenz. Dies lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass Lesekompetenz in einem größeren Ausmaß alltägliche und berufliche Lebensbereiche betrifft und mit dem Erleben von Erfolg einhergeht (S. 354).
Publikation:
Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal.
Herausgeber: Autor:innengruppe Bildungsberichtserstattung
wbv Media, Bielefeld 2022, ISBN 9783763971756
Gedruckte Gesamtausgabe 69,00 €
BestellNr. 6001820h
DOI: 10.3278/6001820hw
Onlineversion kostenlos verfügbar unter: www.bildungsbericht.de
Kontakt:
Dr. Stefan Kühne
DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation
DIPF Berlin
Warschauer Straße 34-38
10243 Berlin
E-Mail: kuehne@dipf.de
www.bildungsbericht.de
Literatur:
Behörde für Schule und Berufsbildung. (2021). Zweiter Corona-Lockdown hinterlässt deutliche Lernlücken. https://www.hamburg.de/bsb/pressemitteilungen/15380326/2021-09-10-bsb-zweiter-corona-lockdown-hinterlaesst-deutliche-lernluecken/. Zugriff: 10.09.2022.
Depping, D., Lücken, M., Musekamp, F., & Thonke, F. (2021). Kompetenzstände Hamburger Schüler*innen vor und während der Corona-Pandemie. In D. Fickermann & B. Edelstein (Hrsg.), Schule während der Corona Pandemie (DDS – Die Deutsche Schule: Beiheft 17, S. 51–79). Waxmann.
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Hammerstein, S., König, C., Dreisörner, T., & Frey, A.(2021). Effects of COVID-19-Related School Closures on Student Achievement – A Systematic Review. Frontiers in Psychology, 12.
IfBQ – Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (2022). KERMIT im Kohortenvergleich. Vergleich der Ergebnisse von KERMIT 3, 5 und 7 aus dem Jahr 2021 mit früheren Erhebungen. https://www.hamburg.de/contentblob/15935050/c293bb1a64c4e591bc58627a651bf8dd/data/ergebnisbericht-kermit.pdf. Zugriff: 18.05.2022.
Kartushina, N., Mani, N., Aktan-Erciyes, A., Alaslani, K., Aldrich, N. J., Almohammadi, A., & Mayor. J. (2022). COVID-19 first lockdown as a window into language acquisition: associations between caregiver-child activities and vocabulary gains. Language Development Research, 2(1), 1–36.
Kuger, S., Marcus, J., & Spieß, C. K. (2019). Day care quality and changes in the home learning environment of children. Education Economics, 27(3), S. 265–286.
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Ludewig, U., Kleinkorres, R., Schaufelberger, R., Schlitter, T., Lorenz, R., König, C., Frey, A., & McElvany, N. (2022b).COVID-19 pandemic and student reading achievement - findings from a school panel study. PsyArXiv. doi: https://doi.org/10.31234/osf.io/hrzae. Zugriff: 18.05.2022.
Schult, J., Mahler, N., Fauth, B., & Lindner, M. (2021). Did Students Learn Less During the COVID-19-Pandemic? Reading and Mathematics Competencies Before and After the First Pandemic Wave. https://psyarxiv.com/pqtgf/. Zugriff: 18.05.2022.
Zierer, K. (2021). Effects of Pandemic-Related School Closures on Pupils’ Performance and Learning in Selected Countries: A Rapid Review. Educational Science, 11(6), 252.
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