Schülertext

Ein Reader mit Gespenstergeschichten

29.04.2022

Die Siegertexte des THEO-Schreibwettbewerbs 2022




© Wortbau e. V.
© Wortbau e. V.
„Der THEO macht neugierig auf Literatur und weckt Freude am Schreiben. Gefühle, Wünsche, Sehnsüchte und vieles mehr werden auf diese Weise mit anderen geteilt“, schreiben Dr. Dietmar Woidke, Ministerpräsident des Landes Brandenburg, und Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin von Berlin, in ihrem Grußwort an die Preisträgerinnen und Preisträger des THEO 2022 - Berlin-Brandenburgischer Preis für Junge Literatur. Rund 600 Texte wurden für den nach dem Schriftsteller Theodor Fontane benannten Schreibwettbewerb eingereicht: Geschichten, Gedichte und Gedankenschnipsel zum Thema „Gespenster“. Teilnehmen konnten Kinder und Jugendliche aus Deutschland und der ganzen Welt bis zum Alter von 20 Jahren. 15 Texte haben die Jury besonders überzeugt. Ihre Autorinnen und Autoren wurden am 23. April 2022 im Rahmen einer feierlichen Preisverleihung in der Staatskanzlei Potsdam geehrt. Ein Reader mit den prämierten Texten kann beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels Landesverband Berlin-Brandenburg e.V. erworben werden.
Als Leseproben folgen ein actiongeladenes Stück Lyrik von Agony Montasser und eine poetische Reise zu den Geistern der Vergangenheit von Amely Wernitz.

Terrassenmassakerkinder versus Zelebrators
von Agony Montasser, 10 Jahre

Am grellblaugelben Nachmittag. Es kommen
die angriffslustigen Terrassenmassakerkinder:

Bom, Tom, Gem, Louise, Jom, Zom, Chom und
Istmiregalwasaberichkriegredbull.

Der Garten. Die superglücklichen
Gurken. Die intelligenten Hühner!

An der Hecke treffen sie auf die Zelebrators:
1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 und 59.

1 ist der Depressionsbringer.
Er wird zerfleischt von Bom.

2 ist der Drogenbringer.
Er wird totgeschlagen von Tom.

Tom aber wird zerstochen
von 59, dem Daimon.

3 ist die Schlechtenotenbringerin.
Sie wird geköpft von Gem.

5 ist der Krankheitsbringer.
Er wird von der kleinen Louise in Flammen gesetzt.

8 ist der Ängstebringer.
Er wird von Istmiregalwasaberichkriegredbull (w) zerweint.

13 ist der Alkoholbringer.
Er stolpert und bricht sich von selbst das Genick.

21 ist der große Todbringer.
Alt. Rot. Rückzahlhaftig.

Die Terrassenmassakerkinder
holen Nickbackbo, den Verscomedian.

Der Verscomedian macht schlechte Witze.
Der Todbringer lacht sich tot.

59 ist der Daimon im unwörtlichen Sinne.
Hinterlistig. Still. Voller Hass.

Er verwandelt Bom und Gem in Asche.
Asche erscheint – wieder auferstanden – hinter 59.

„Jetzt habe ich mein gesamtes Geld
für diesen Angriff verschwendet,
aber es hat nichts gebracht“,
klagt 59. Er besitzt kein Geld mehr.

Die intelligenten Hühner
und die glücklichen Gurken

lachen und philosophieren wieder friedlich
vor sich hin.

Und der grellblaue Himmel entfaltet sich
zu ganz normalem Wetter.


Juror Temye Tesfu über Agony Montasser: Terrassenmassakerkinder
Hier ist kein Wort zu viel. Aber es gibt viel zu sagen über dieses actiongeladene Stück Lyrik. Beginnen wir mit dem Offensichtlichsten: Nicht wenige Dichter*-innen dürften sich wünschen, in zehn Jahren so souverän schreiben zu können wie dieser Zehnjährige. Agony Montasser stellt nicht nur einen außerordentlichen Sinn für Versbrechung unter Beweis, und damit seine Parkettsicherheit, was lyrisches Tempo betrifft. Er beeindruckt auch mit sprachschöpferischer Spielfreude, unaufdringlicher Klanglichkeit, mit dramaturgischem wie komödiantischem Timing. Mitreißend und ohne jedes Pathos schildert das Gedicht in nur wenigen Zeilen eine Schlacht, die ein Kinofilm nur mit Überlängenzuschlag erzählen könnte. Terrassenmassakerkinder versus Zelebrators ist ein Kampf gegen moderne apokalyptische Reiter und zeitgemäße Übel wie Drogen, Depressionen und (natürlich) schlechte Noten. Als das Gemetzel vorbei ist, bleibt das Ende der Welt allerdings. Und die superglücklichen Gurken und intelligenten Hühner? Die zeigen sich herrlich unbeeindruckt von den Mühen ihrer menschlichen Mitspezies, die sich selbst so wichtig nimmt. Dieser Text ist seinerseits ein grellblaugelber Himmel mit viel Platz für Wolkendeutungen – und eine Mordsgaudi obendrein.


Was die Bagger wecken
von Amely Wernitz, 18 Jahre

Wenn dein Lederschuh die Kiesel stößt, dann stieben sie auseinander wie Schnee, verteilen sich vor und neben uns und doch auch dort, wo du sie wegtreten wolltest. Liegen weiter im Hoftor. Dort, wo ich mich hinlegen und warten will, dass die Zeit zurückgedreht wird.
„Hereinspaziert“, lade ich ein und sehe den Weg und das Gras dahinter und den Stall, wo die Sitzkissen der verrosteten Hollywoodschaukel lagern. Wozu laden wir ein? Im Hühnerstall sind keine Hühner mehr, in der Scheune die Kutschen weggeräumt. Bald wird jemand hier wohl ausbauen, eine Sauna in den Kuhstall vielleicht. Oder eine Garage mit Glaswänden, für die sieben Menschen die Woche, die am Hof vorbeifahren mögen.
„So habe ich es nicht in Erinnerung“, sagst du. Ich spüre, wie der feine Kohlestaub in meiner Nase kitzelt und sage: „Ich schon.“ Aber du bist eben älter, Brüderchen. Du kennst noch einen lebendigen Ort, für mich lag immer schon ein bisschen Friedhof in der Luft. Ein bisschen Leere, als alle noch versuchten, über die Lücken hinweg zu lachen. Wer weiß, vielleicht hat es die Löcher gestopft, dass Oma immer doppelt so viel kochte wie nötig.
Ich gehe und biege den Hebel des Hühnerstalltors zurück. Es riecht noch immer nach fluglosen Vögeln, nach uns Kindern mit roten Bobbycars und Springseilen. Im Hühnerstall steht noch der Eimer, über dem geschlachtet wurde.
Ich sah zu und ich sehe es immer noch.
„Du hast mir einmal erzählt, der Teufel würde hier wohnen“, sage ich und lächle abwesend. „Weißt
du noch?“
Du kniest, fährst mit der Hand durch die verschonten Körner. Ich glaube nicht, dass du mich gehört hast.
„Frido?“
„Hm?“, Du siehst auf.
„Deine Teufelsgeschichte, weißt du noch?“
„Oma hat die erzählt. Aber nicht wie eine Geschichte.“ Du richtest dich auf, streifst den Staub
von deiner Hose und scheinst dich nicht entscheiden zu können, ob die Sorgenfalten auf deiner Stirn
bleiben oder gehen sollen.
Es ist kalt hier oder vielleicht habe ich Gänsehaut, weil mir diese tiefen Gebäude nicht ganz geheuer sind.
„Wie dann?“
„Als wäre es wahr.“
Es ist der Moment, in dem das Licht ausgeht (aber hier sind keine Kabel verlegt), in dem ein Windstoß hindurchfegt (aber es ist ein lauer Sommerabend, keine Fahne weht) und wir uns von Furcht versteinert aneinander klammern (aber ich bin wirklich versteinert und ich weiß, dass du keine Umarmungen magst). Das Huhn steht trotzdem vor uns. Starrt uns an. Gackert. Pickt ein Korn.
„Der Teufel“, sage ich.
„Ein Huhn“, sagst du.
Es scheint alles Sinn zu ergeben. Der Teufel ist ein Huhn in Omas Hühnerstall.
Und ich sehe das Tier an und erinnere mich an Urgroßmutter, die Taschentuchränder umhäkelnd in einem Schaukelstuhl am Fenster zu sitzen pflegte, den Sand in der Luft inhalierte und murmelte: „Sie wissen nicht, sie wissen nicht, was sie ausgruben, als sie damit anfingen.“
Und wir Kinder, fasziniert von Geschichten und allem, was Abenteuer schien, rutschten auf Knien näher.
„Womit anfingen?“, hattest du gefragt.
„Die Kohlegruben. Wenn man Löcher so tief gräbt, wo früher Wald und Mensch und Leben war, dann vertreibt man nicht nur, was lebte, sondern weckt auch, was längst ruhte.“
„Was denn?“, hatte ich gefragt, doch Urgroßmutter hatte sanft den Kopf gewiegt. „Sie wissen es nicht, sie wissen es noch nicht.“
Vielleicht wissen wir es jetzt, denke ich im dunklen Hühnerstall. Der Sand kitzelt meine Kehle, es riecht nach Asche und wenn der Wind zu uns hineinpfeift, dann könnte man meinen, die Stimmen derer zu hören, die die Bagger Stunde für Stunde ausgraben.
Du kommst näher. „Meinst du, daran hat Großmutter auch geglaubt?“ Urgroßmutter hatte nie vom Teufel gesprochen, Großmutter keine Welt vor den Löchern in der Landschaft gekannt. Genauso wenig wie wir. „Mag sein“, überlege ich und will gar nichts sagen, weil ich mir selbst Angst mache. „Die schrumpfenden Dörfer, das Leben, das neben den Gruben verschwindet, der Wind, die Stille. Kann doch sein, dass etwas ... dass etwas sich den Raum zurücknimmt, der ihm genommen wurde.“
Ich höre dich schlucken. Auf einmal sind wir weniger Erwachsene und wieder Kinder, halten Ausschau nach dem Schaukelstuhl. Dem Beweis, dass es doch nichts als Geschichten sind.
Das Huhn blinzelt. Durch meinen Schal pfeift der Wind. Die Scharniere der Hollywoodschaukel knarzen.
Ich will vorschlagen zu gehen, habe genug, drehe mich zu dir. Deine Augen werden groß.
Hinter uns, Flügelschlagen.
„Ich glaube, es nimmt sich schon, was es verloren hat“, sagst du noch. Ist das Großmutter, da vorn?

Juror Ronald Gohr über Amely Wernitz: Was die Bagger wecken
Amely Wernitz ist eine eindrucksvolle Erzählung gelungen. Die junge Autorin wählt das Bild eines Baggers und nimmt mich mit auf eine poetische Reise zu den Geistern der Vergangenheit. Bagger graben sich in Landschaften, Bagger bauen auf, Bagger vernichten auch.
Die Ich-Erzählerin ist mit ihrem Bruder auf den Spuren familiärer Vergangenheit. Mit feinem Kohlestaub in der Nase spüren wir die Abraumbagger Dörfer abreißen, Löcher graben, gewachsene Familien trennen und auch das Wissen und die Geschichten der Alten vernichten.
Die Dialoge der Geschwister spüren hierbei nachdenklich, aber nicht verträumt Erinnerungen an Traditionen nach, erinnern die Geschichten der Urgroßmutter, erzählen vom Leben der Kindheit, vom lebendigen Ort mit roten Bobbycars und Springseilen und einem bisschen Friedhof sowie dem Scharren der Hühner im Stall. Auch an den Teufel? – Alles ist Vergangenheit. Alles ist Zukunft. Alles ist unser Leben!
Wird hier etwas Neues gebaut? Welche Zukunft hat Omas alter Hühnerstall? Keiner weiß es. Die Gedanken bekommen freien Lauf.
Eine wunderbare Geschichte voll Poesie und Nachdenklichkeit. Es werden Gefühle der Kindheit erinnernd transportiert. Die eindrücklichen Bilder erzeugen beim Lesen fast automatisch das Abtauchen in die eigene Vergangenheit. Das Auseinandersetzen mit ihr. Das hat bei mir wunderbar und nachdenklich funktioniert. Die Geister der Vergangenheit lohnen einer Betrachtung.
Amely Wernitz ist eine kleine, aber faszinierende Geschichte gelungen. Gerne lese ich: „Auf einmal sind wir weniger Erwachsene und wieder Kinder, halten Ausschau nach dem Schaukelstuhl. Dem Beweis, dass es doch nichts als Geschichten sind.“
Diese Geschichte hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Eine junge Autorin, von der ich hoffe, dass noch viele Texte entstehen werden.


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