Bericht

Neunauge – von der Lust am Bild zur Bildung der Sprache

15.08.2017

Einführung in den Umgang mit textfreien Bilderbüchern in der Praxis




Titelseite der Broschüre
Titelseite der Broschüre
© LISUM Berlin-Brandenburg
Das sehstarke Neunauge begleitet Leserinnen und Leser durch die gleichnamige Broschüre des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM), deren Anliegen es ist, das Potenzial textfreier Bilderbücher für die Sprachbildung aufzuzeigen. Neben grundlegenden Informationen zu textfreien Bilderbüchern, ihren Erzählstrategien und Varianten werden zahlreiche erprobte Methoden und Projektideen für den Unterricht und den Einsatz in der Schulbibliothek vorgestellt. Als Leseprobe veröffentlichen wir nachfolgend aus dem Kapitel 2 „Bild-Räume: Sprach-Räume“ den Abschnitt „Bilderbuch-Dialog auf Augenhöhe: Chancen der Sprachbildung durch die Beschäftigung mit textfreien Bilderbüchern“ (S. 16-19). Die gesamte Broschüre steht zum kostenlosen Download zur Verfügung unter: bildungsserver.berlin-brandenburg.de

Bilderbuch-Dialog auf Augenhöhe: Chancen der Sprachbildung durch die Beschäftigung mit textfreien Bilderbüchern
Jedes textfreie Bilderbuch ist ein ästhetisches Angebot einer Welt ohne schriftlich fixierte Wörter. Sind in einem textfreien Bilderbuch meist mehrere mögliche Geschichten – mit unendlich vielen Variationen und Erweiterungen – angelegt, so macht es im Hinblick auf die Sprache keinerlei Vorgaben. Textfreie Bilderbücher funktionieren in dieser Hinsicht wie Musik oder Objekte aus der bildenden Kunst: Sie sind universell zu verstehen. Die Ästhetik der Bilder bewegt sich, wie ansonsten Texte natürlich auch, in kulturellen Kontexten; doch in welcher Sprache ich mich auch zu den Bildern äußere, es ist immer die richtige. In der Arbeit mit multikulturellen und mehrsprachigen Gruppen erweist sich das als idealer Türöffner.

Jedes Bilderbuch, auch das mit Text, lädt zum gemeinsamen Gespräch ein. Beim Vorlesen von Bilderbüchern mit Text verbinden sich die Bilder mit Wörtern und Sätzen. Der Genuss des Eintauchens und der gemeinsamen ästhetischen Erfahrung verbindet sich auf positive Weise mit Sprache und bietet allein von daher eine gute Voraussetzung für Sprachbildung. Im Gegensatz zum traditionellen Vorlesen, bei dem die Kinder auf das Zuhören reduziert sind, werden sie beim dialogischen Bilderbuchlesen dazu aufgefordert, sich mit ihren Fragen und Assoziationen aktiv einzubringen und zu beteiligen. Doch irgendwann kehrt der vorlesende Erwachsene meist wieder zu der Geschichte zurück, die im Text fixiert ist. Die Bilder ohne Textvorgabe hingegen verstärken die Vorteile des dialogischen Bilderbuchlesens noch. Die Kinder bringen sich nicht nur mit ihren Fragen ein und unterbrechen und erweitern die Geschichten mit ihren Beiträgen, sie selbst bestimmen auch die Geschichte. Sie können entscheiden, ob man beim Betrachten von „Camping“* die Geschichte des aufgeblasenen Gummikrokodils erzählt oder die Geschichte des Eichhörnchens.

Die Kinder entscheiden auch, ob die Geschichte Geräusche enthält, viele lautstarke Wörter oder Dialoge, märchenhafte Formeln, assoziierte Wörter oder ob sie einfach nur aus Fragen besteht. Die Perspektive, der Ton und die Wörter müssen eben erst gefunden werden. Das kann nur gelingen, wenn sich alle darauf einlassen, die Bilder zu betrachten, den anderen zuzuhören und eigene Sprachformen und Sätze zu finden.

Kinder sowie Erwachsene sind gleichermaßen Expertinnen und Experten für das Betrachten und Konstruieren des Geschehens. So entsteht ein Bilderbuch-Dialog auf Augenhöhe, der in besonderer Weise die Perspektiven aller Betrachterinnen und Betrachter mit einbezieht und für diese Raum bietet. In der dialogischen Betrachtung der Bilder ohne Text wissen die Erwachsenen nicht mehr als die Kinder. Es gibt keine Lesart bzw. Betrachtungsweise, die durch einen Text vorgegeben wird. Alle Beteiligten können Gesagtes und Interpretiertes immer wieder durch den direkten Blick abgleichen und umdeuten. Dies ist ein großes Vergnügen, führt zu Spannung und genauem Hingucken. Oft führen die Fragen zur nächsten Seite oder auch zum Zurückblättern. So etwa bei Thé Tjong-Khings „Hieronymus“*, wo Kinder einer Jahrgangsstufe 2 Seite für Seite sehr genau die Verwandlungen der „bösen Drachenfrau“ verfolgen, um sie buchstäblich im Blick zu haben und so ihre Gefahr für den kindlichen Protagonisten einschätzen zu können.

Die unterschiedliche Rezeptionsweise von Bilderbüchern bei Kindern und Erwachsenen ist noch wenig untersucht.14 Ihre Existenz ist aber unbestritten und sollte beim gemeinsamen Betrachten produktiv gestaltet werden. Sicher ist, dass ein Kind, das noch keine oder wenig Schrifterfahrung hat, bei der Konstruktion einer Geschichte über das Betrachten von Bildern grundsätzlich anders vorgeht. Es verlässt sich ausschließlich auf das, was es sieht, sucht für eine Erklärung nach keinem Text, sondern sucht die Bedeutung ausschließlich im Bild.

Dammann-Thedens und Michalak haben in ihrem Aufsatz „Bildnarrationen im Fremdsprachenunterricht – Annäherungen an das Bildverstehen“15 in Bezug auf die Sprachbildung auf eine weitere Chance der Bilderbücher ohne Worte hingewiesen: Jedes Kind kann sich mit seiner eigenen Sprache, seinem Sprachniveau einbringen. Wesentlicher als das Niveau und die Eloquenz ist das Spektrum der Ausdrucksweisen. Ein zu einem Bild passendes Geräusch oder ein Verweis auf eine andere Geschichte kann für das Erschließen des Bildes und die Konstruktion der Geschichte genauso gewinnbringend sein wie ein verschachteltes Satzgefüge. Ein Junge ruft z. B. „Ratatouille“ aus, als er auf dem Bild eine Maus entdeckt; er stellt so einen Bezug zu dem bekannten Zeichentrickfilm her und macht auch für die anderen ein weiteres Assoziationsfeld auf. Ein Mädchen macht Windgeräusche mit dem Mund, als das Krokodil losfliegt und verweist damit auf die Dynamik der Bilder in „Camping“* von Eilika Mühlenberg. Die Sprachbildung ist hier allein auf das Entstehen und Konstruieren von Sprache ausgerichtet, es gibt keinen Blick auf Defizite. Korrektives Feedback bei falsch angewendeter Grammatik kann dennoch stattfinden.

Das korrektive Feedback ist eine Methode, grammatikalische oder im Wortsinn falsch verwendete Redeweisen der Kinder zu korrigieren. Dazu wird der Satz des Kindes wiederholt, ohne den Gesprächsfluss zu stören.
Beispiel: Emma: Was für ein böses Drachenfrau!
Erwachsener: Ja, das ist wirklich eine sehr böse Drachenfrau!

Auch die bzw. der Erwachsene bringt sich ein und kann Wortfelder erweitern oder Sprachwendungen hinzufügen. Da alle gebannt an der Geschichte interessiert sind, wird Sprache zum Instrumentarium, eine spannende Geschichte zu gestalten und Bilder zu erschließen. Das Spektrum ist endlos und auch das zuhörende Kind kann das Gesagte allein mit Blick auf das Bild oder die Bilderfolge erschließen. Wortfelder können so erobert werden, der eigene Wortschatz wird erweitert.

Jens Thiele hat als einer der ersten Kriterien für eine Kindgemäßheit des Bilderbuches aufgestellt:16
  • die eigene Neugier befriedigen
  • Suche nach elementaren Erfahrungen im ästhetischen Bereich befriedigen
  • zur aktiven Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen motivieren
  • Spielräume für die eigene Entfaltung eröffnen

Das kindgemäße Bild müsste zur Entdeckung auffordern, Fragen stellen, Rätsel aufgeben.
Thiele nach Ritter, 2014, S. 115

Da bei textfreien Bilderbüchern die Geschichte erst konstruiert werden muss, das Einbringen eigener Ideen so einen noch größeren Raum erhält, treffen diese Kriterien hier in besonderem Maße zu. Das Konstruieren der eigenen Geschichte trifft natürlich auch auf das Lesen eines Romans oder eines Bilderbuches mit Text zu, doch beim textfreien Bilderbuch potenziert sich dieser Vorgang und wird auch kleinen Kindern schon bewusst. Ein textfreies Bilderbuch gibt ein sehr deutliches Signal: Entschlüssle mich! Es birgt eine Aufforderung zum Sprechen, den Bildern die eigene Sprache hinzuzufügen. Wesentlich für die Bilderbuch-Dialoge ist auch, dass es ein Erschließen von Bildern und Konstruieren von Geschichten jenseits der bildanalytischen Annäherung gibt.

Bilder lassen sich in erster Linie sehen und darüber hinaus: imaginieren, darstellen, sichtbar machen.
nach Uhlig, 2014, S. 11


Quelle:
Neunauge – von der Lust am Bild zur Bildung der Sprache
Einführung in den Umgang mit textfreien Bilderbüchern in der Praxis
Herausgeber: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM)
Autorinnen: Katja Eder, Katrin Seewald, Sarah Wildeisen
Redaktion: Irene Hoppe
Beratung: Marion Gutzmann, Regina Pols
Zeichnungen: SaBine Büchner (Neunaugen)
Fotos: Katja Eder, Christa Penserot, Katrin Seewald, Sarah Wildeisen
Gestaltung: Christa Penserot
Ludwigsfelde 2017
ISBN: 978-3-944541-32-7
Download

Kontakt:
Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM)
14974 Ludwigsfelde-Struveshof
Tel.: (03378) 209-0
E-Mail: poststelle@lisum.berlin-brandenburg.de
Internet: www.lisum.berlin-brandenburg.de


* Bilderbücher:

Mühlenberg, Eilika, 2014: Camping: Urlaub mit Wind und Wirbel. Zürich: Atlantis Verlag

Tjong-Khing, Thé, 2016. Hieronymus: Ein Abenteuer in der Welt des Hieronymus Bosch. Frankfurt am Main: Moritz Verlag

Literatur:

Damman-Thedens, Katrin und Magdalena Michalak, 2012: Bildnarration im Fremdsprachenunterricht: Annäherungen an das Bildverstehen. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht. 17(2), S. 129–142

Ritter, Alexandra, 2014: Bilderbuchlesarten von Kindern: Neue Erzählformen im Spannungsfeld von kindlicher Rezeption und Produktion. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren

Thiele, Jens u. a., 2000_ Das Bilderbuch: Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Oldenburg: Isensee

Uhlig, Bettina, 2014: „Ich sehe etwas, was du nicht siehst“: Bildsehen und Bildimagination bei der Betrachtung von Bilderbüchern. In: Scherer, Gabriela und Maja Wiprächtiger-Geppert, Hrsg. Bilderbuch und literar-ästhetische Bildung: Aktuelle Forschungsperspektiven. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, S. 9–22

Anmerkungen:
14 Vgl. Ritter, 2014, S. 267
15 Dammann-Thedens, Michalak, 2012, S. 129 ff
16 Vgl. Ritter, 2014, S. 115


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