
Adaptable Books |
29.07.2016 |
Kombinierte Aneignung literarischer Texte im Medienverbund
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Adaptable Book mit Exklusivinterview © Uta Hauck-Thum |
Die Vorträge des Symposiums können in JuLit 2/2016, der Zeitschrift des Arbeitskreises für Jugendliteratur, nachgelesen werden. Als Leseprobe veröffentlichen wir den Beitrag von Uta Hauck-Thum.
Adaptable Books
Wenn Bücher sich an ihre Leser und Leser sich an ihre Bücher anpassen. In einer Münchner Grundschule entwickeln Drittklässler ihre individuellen E-Books.
Literarisch-mediale Rezeptionserfahrungen von Kindern sind äußerst vielfältig und beeinflussen ihre Einstellung zum Lesen. Über den Einsatz und die aktive Gestaltung adaptierbarer digitaler Bücher - so genannte enhanced E-Books - wird im Rahmen universitärer Projektseminare der Lehrstühle für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur und der Grundschulpädagogik und -didaktik an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München untersucht, ob und wodurch diese „Adaptable Books“ im Besonderen dazu geeignet sind, literarische Lernprozesse bei Kindern anzustoßen und weiter zu entwickeln. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Rezeptions- und Produktionsweisen von Kindern im Umgang mit literarischen Texten und auf dem Lesen literarischer Texte in unterschiedlichen Lesemodi.
Das Projekt „Adaptable Books“ fand an einer Münchner Grundschule mit einem hohen Anteil an mehrsprachig aufwachsenden Kindern statt. Studierende führten zunächst Leitfrageninterviews mit Kindern einer dritten Klasse durch, die sich auf deren Lesegewohnheiten und Interessen im Umgang mit Märchen bezogen. Die Textsorte ergab sich zum einen aus dem pädagogisch-didaktischen Potenzial, zum anderen aus der Tatsache, dass die Grimm’schen Märchen mit Hinblick auf das Urheberrecht frei verfügbar und somit auch adaptierbar sind. Es bestätigte sich die Vermutung, dass Kinder Märchen in äußerst vielfältigen Kombinationen und Konstellationen begegnen. Mädchen bewerteten Märchen generell positiver als Jungen. Insgesamt sahen die Kinder der Projektklasse Märchen meist im Kino oder im Fernsehen, bekamen sie vereinzelt vorgelesen oder mündlich erzählt, hörten sie regelmäßig in Form von Hörspielen oder kannten sie von Geschichten-Apps am Tablet.
Chancen und Ziele
Literarische Bildung ergibt sich nicht allein aus der Auseinandersetzung mit Printmedien.1 Auch der Umgang mit medialen Präsentationsformen im Medienverbund spricht die Sinne an. Bereits im Vor- und Grundschulalter rezipieren Mädchen und Jungen Hörspiele und machen über Kino- und Fernsehfilme literarische Erfahrungen zu unterschiedlichen Romanvorlagen.2 So bilden sich noch vor Schulbeginn individuelle literarästhetische Vorerfahrungen und Vorlieben aus.
„Adaptable Books“ knüpfen sowohl an diese literarästhetischen Vorerfahrungen als auch an mediale Nutzungsgewohnheiten an. Sie vereinen unterschiedliche mediale Formate in einem literarischen Präsentationsformenverbund aus Printmedium, Hörspiel, Trickfilm, Puppentheater und szenischem Spiel. Im Rahmen der Eigenproduktionen können bereits Schulanfänger ihre eigene Sprache verwenden, Bildfolgen anordnen und gestalten sowie Ton einsetzen. Dadurch haben sie die Möglichkeit, Raumeindrücke gemäß individueller Vorerfahrungen ästhetisch ansprechend wiederzugeben und sogar persönliche Emotionen und Wertvorstellungen einzubringen. Eindrücke, die sie beim Hören und Sehen, etwa beim Vorlesen aus einem Bilderbuch, im Theater oder im Kino gewonnen haben, lassen sich bei der Filmarbeit aufgreifen und gestalterisch nutzen. Wahrnehmungsgeleitete Sinnbildungsprozesse werden dadurch ermöglicht.3 Über die aktive Auseinandersetzung mit der Textvorlage und das Hineinschlüpfen in unterschiedliche Rollen lernen die beteiligten Kinder, Perspektiven der Protagonisten zu verstehen und mit eigenem Handeln zu vergleichen. Zudem setzen sie sich bewusst mit Fiktionalität auseinander. Zentrale Aspekte literarischen Lernens werden bei der kreativen Filmarbeit altersgemäß berücksichtigt.4
Adaptionsmöglichkeiten
„Adaptable Books“ ermöglichen eine Adaption an unterschiedliche Anforderungen der kindlichen Lernausgangslage. Auf Seiten der Lehrer sind dabei Diagnosekompetenzen in Bezug auf Leseleistung, Leseinteressen und Lesegewohnheiten sowie Kenntnisse über mediale Nutzungsvorlieben der Kinder von großer Bedeutung. Zunächst können Länge und Komplexität des Textes angepasst werden. Sogar der Vorliebe für unterschiedliche Textsorten kann entsprochen werden, wenn beispielsweise ein Sachtext zum Verständnis der Handlung in den literarischen Text integriert wird.
Wortschatzerklärungen können als Print- oder Audiotext ergänzt werden. Auch mehrsprachige Passagen lassen sich einfügen. Das Layout wird über die Schriftgröße, den Zeilenabstand oder über besondere Hervorhebungen (z.B. in Silbenschreibweise) an den jeweiligen Lernstand angepasst. Wie die Anschlusskommunikation nach der Rezeption zeigte, bevorzugten nicht alle Kinder grundsätzlich mediale Umsetzungen. Bei besonders gruseligen Szenen bevorzugten manche Kinder die printmediale Darstellung, da ihnen die Kombination von Bild und Ton als zu drastisch erschien: „Die Stelle mit dem Wolf und der Großmutter hätte ich lieber gelesen. Das war gruselig! Auch mit der Musik und so. Dadaa!“ Ein Mädchen wünschte sich die filmische Umsetzung erst am Ende, da sie beim Lesen vorher nicht gestört werden wollte. Den meisten Kindern gefiel ein gleichmäßiger Anteil von Printtext, auditiven und audiovisuellen Elementen. Auch schwächere Leser nahmen so das Lesen literarischer Texte als Unterhaltung wahr, was zu einem involvierten Lesen als Grundlage literarischen Lernens beitrug.
Während des laufenden Schuljahres standen die Bücher im Lese- und Literaturunterricht in Form einer digitalen Bibliothek am Tablet zur Verfügung. Gelesen wurde im Rahmen der Wochenplanarbeit oder in Kleingruppen, teils zum reinen Genuss, teils zur Bearbeitung der an das individuelle Leistungsniveau angepassten Arbeitsaufträge. Wurde über das Whiteboard oder am Beamer im Klassenverband gelesen, lag der Schwerpunkt auf der Anschlusskommunikation. Vor allem die medialen Elemente der Bücher motivierten die Kinder zur Beteiligung am Dialog und ermöglichten einen intensiven sprachlichen Austausch. An den Aussagen der Kinder zeigte sich, dass literarästhetisches Vorwissen durchaus vorhanden war. Obwohl in sehr unterschiedlichen Medienumgebungen erworben, konnte es dennoch im unterrichtlichen Sinne gewinnbringend genutzt werden. So wurde aus einer individuellen Vorliebe für Geschichten mit viel „Action“ ein wichtiges Kriterium einer gelungenen Eigenproduktion. Voraussetzung dieses Prozesses war die Anerkennung kindlicher Rezeptionserfahrungen.
Vielfältig und individuell
Vor allem für Kinder, die in Bezug auf unterrichtliches literarisches Lesen über divergente Lernvoraussetzungen verfügen, kann die Verknüpfung multimedialer und multimodaler literarischer Ausdrucksformen zu einer Erhöhung der Passung von nichtschulischen und schulischen literarischen Erlebnissen führen, sowohl bei der Rezeption als auch bei der Produktion der Bücher. Der Lesetext wird bei der kombinierten Aneignung des literarischen Stoffs im Medienverbund nicht einfach medial ersetzt, sondern von den Kindern kreativ mitgestaltet und angeordnet. So kann der Vielfalt beim Umgang mit unterschiedlichen Medien didaktisch begegnet werden. Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren in Verbindung mit medialen Umsetzungsmöglichkeiten beeinflussen zudem das lese- und medienbezogene Selbstkonzept positiv5 und wirken dem insgesamt geringeren Interesse von Jungen am Märchengenre entgegen.6 Die Integration unterschiedlicher Zeichensysteme von Text, Ton und Bild trägt zur Verbesserung medialer Zeichenkompetenz bei, die als Kernkomponente von Medienkompetenz im Vor- und Grundschulalter gilt.7 Fachdidaktisch werden sowohl die Konzepte der geschlechtersensiblen Leseförderung und des literarischen Lernens mit Medien umgesetzt als auch der Auftrag zur Medienerziehung erfüllt. Grundsätzlich geht es nicht darum, literarische Rezeptionsweisen in der Schule zu medialisieren. Schule sollte aber dennoch anschlussfähig an die mediale Entwicklung und an die Bedürfnisse der Kinder bleiben, die Literatur vielfältig erleben und individuell mitgestalten.
Erfahrungsbericht
Lisette Härtl, Studentin des Lehramts an Grundschulen an der LMU, hat am Projekt teilgenommen:
„Im Seminar betreute jeder Studierende ein bis drei Kinder. Ich habe mit einem Jungen gearbeitet, der Märchen nicht so gerne mochte. Generell gefielen ihm Geschichten und er kannte die meisten aus dem Fernsehen. Abenteuer- und Tiergeschichten waren ihm am liebsten. Das Lesen von Büchern bewertete er als eher anstrengend. Besonders schwer fiel es ihm, sich die Handlung der Geschichte vorzustellen. Ich wählte als Textgrundlage den Gestiefelten Kater aus, da es sich um ein Tiermärchen mit einem männlichen Protagonisten handelt. Dann versuchte ich, den Text zu vereinfachen. Zudem plante ich unterschiedliche Filmelemente ein, die den Handlungsverlauf verdeutlichen sollten. Die Filme zum Text erstellten die Kinder der gesamten Projektklasse in Gruppenarbeit. Sie setzten dabei Teile des Textes als Trickfilm um. Zudem durfte der Junge in die Rolle des gestiefelten Katers schlüpfen, der von einer Gruppe interviewt wurde. Dadurch sollte ihm der Perspektivenwechsel erleichtert werden. An der Anschlusskommunikation mit der ganzen Klasse nach dem Lesen des Buchs beteiligte er sich aktiv. Er gab an, selbst lieber Adaptable Books zu lesen, da ihm hier schwierige Stellen erzählt würden oder er zur Abwechslung einen Film sehen könne.“
Über die Autorin
Dr. Uta Hauck-Thum ist Akademische Rätin am Lehrstuhl für die Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen des Symposiums „Wisch und weg? Literarisches Lernen in Zeiten medialen Wandels“, veranstaltet vom Arbeitskreis für Jugendliteratur auf der Leipziger Buchmesse im März 2016. Mehr Informationen zum Projekt „Adaptable Books“: www.adaptablebooks.com
Literatur
Abraham, Ulf: „Lesekompetenz, literarische Kompetenz, poetische Kompetenz“. In: Rösch, Heidi (Hrsg.): Kompetenzen im Deutschunterricht. Frankfurt / Main: Peter Lang 2008.
Kruse, Iris: „Brauchen wir eine Medienverbunddidaktik? Zur Funktion kinderliterarischer Medienverbünde im Literaturunterricht der Primar- und frühen Sekundarstufe“. In: Leseräume 1 / 2014, S. 1-30. Online abrufbar unter: www.leseräume.de/wp-content/uploads/2015/10/lr-2014-1-kruse.pdf
(letzter Zugriff: 28. Juli 2016).
Kümmerling-Meibauer, Bettina: „Überschreitung von Mediengrenzen: Theoretische und historische Aspekte des Kindermedienverbunds“. In: Josting, Petra / Maiwald, Klaus (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund. München: Kopaed 2007.
Nieding, Gerhild / Ohler, Peter: „Der Erwerb von Medienkompetenz zwischen 3 und 7 Jahren“. In: TV-Diskurs 4 / 2006, S. 46-51.
Richter, Karin / Plath, Monika: Lesemotivation in der Grundschule. Empirische Befunde und Modelle für den Unterricht. Weinheim: Juventa 2005.
Rosebrock, Cornelia / Nix, Daniel: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2006.
Spinner, Kaspar H.: „Literarisches Lernen“. In: Praxis Deutsch 200, 2006, S. 6-16.
Anmerkungen
1 Vgl Abraham, S. 13ff.
2 Vgl. Kümmerling-Meibauer, S. 12.
3 Vgl. Kruse, S. 14f.
4 Spinner, S. 6 ff.
5 Vgl. Rosebrock / Nix, S. 22.
6 Vgl. Richter / Plath, S. 80 ff.
7 Vgl. Nieding / Ohler, S. 46.
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