Schülertext

THEO - Berlin-Brandenburgischer Preis für Junge Literatur 2015

19.06.2015

Jury prämierte fünf Preisträgerinnen




Plakat zum THEO-Schreibwettbewerb 2015
Plakat zum THEO-Schreibwettbewerb 2015
© Schreibende Schüler e.V.
„10 Sekunden“ lautete das Thema des achten THEO-Schreibwettbewerbs, an dem sich Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland beteiligen konnten. Zwölf junge Autorinnen und Autoren aus Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen waren für den Preis nominiert. Sie stellten ihre Texte bei der Verleihung des „THEO – Berlin-Brandenburgischer Preis für Junge Literatur 2015“ am 19. April 2015 in Berlin vor. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, eröffnete die Preisverleihung und begrüßte die Gäste im großen Saal des Roten Rathauses. Die unabhängige Jury unter dem Vorsitz von Gregor Tessnow und Johannes CS Frank prämierte vier Preisträgerinnen. Die Gewinnerin des Junior-THEO 2015 wurde vom Verein Schreibende Schüler e.V. direkt ermittelt. Die fünf Preisträgerinnen erhielten eine THEO–Medaille, Büchergutscheine und eine Einladung zur Literaturwoche des Vereins Schreibende Schüler e.V. im Sommer 2015, an der sie kostenfrei teilnehmen können.
Wir veröffentlichen nachfolgend die Namen der THEO-Preisträgerinnen und den Text „Brieflesendes Mädchen am Fenster“ von Sofia Marit Nessing aus Lychen.

THEO-Preisträgerinnen 2015

Altersklasse 10 bis 12 Jahre:
Sofia Marit Nessing, 11 Jahre, aus Lychen, für „Brieflesendes Mädchen am Fenster“

Altersklasse 13 bis 15 Jahre:
Kim Katharina Salmon, inzwischen 16 Jahre, aus Geisenheim/Johannisberg, für „Countdown“

Altersklasse 16 bis 18 Jahre:
Lea-Lina Oppermann, 16 Jahre, aus Hennef, für „Remis“

Kategorie „Lyrik“:
Joceline Ziegler, 17 Jahre, aus Berlin, für „Intensitäten“

Junior-THEO 2015:
Inya Stewart-Wiese, 8 Jahre, aus Berlin für „10 Sekunden hat eine Freundin“



Brieflesendes Mädchen am Fenster
Es ist kurz vor Weihnachten. Mit meiner Mutter besuche ich die Gemäldegalerie „Alte Meister“ in Dresden. Ich stehe vor einem Bild, das 1655 gemalt wurde. Der Maler hieß Jan Vermeer. Ich sehe darauf ein Mädchen am offenen Fenster. Vorn im Bild sehe ich eine ausgekippte Schale Obst. Sie liest einen Brief. Ich sehe sie an, ich beobachte sie.
Ich wundere mich. Plötzlich stehe ich neben ihr. Sie bemerkt mich nicht. Ich sehe, dass sie mit den Tränen kämpft. Der Bote, der ihr den Brief brachte, steht vor dem offenen Fenster und sieht teilnahmslos zu. Er war viele Wochen unterwegs. Das Mädchen läuft aus dem Zimmer. Ich laufe hinterher. Sie wirft den Brief in der Küche auf den Tisch und weint, das Gesicht in die Hände vergraben. Ich bin neugierig. Ich versuche, den Brief unbedingt zu lesen. Aber die Schrift ist ganz anders. Mein Herz klopft vor Aufregung. Auf der Treppe höre ich die müden Schritte des Boten.
Plötzlich höre ich eine Tür aufgehen. Es ist die Mutter.
„Liesel“, ruft sie, „ich bin wieder da.“
Sie kommt in die Küche. Auch sie sieht mich nicht.
Sie fragt ihre Tochter erschrocken: „Liesel, warum weinst du? Was ist passiert?“
Ich zittere vor Anspannung, zeige auf den Brief, fasse sie am Arm. Sie bemerkt mich nicht. Ich bin unsichtbar. Liesel fällt ihrer Mutter um den Hals und zeigt auf den Brief. Die Mutter liest. Tränen laufen ihr über die Wangen.
Liesel sagt: „Vater ist tot. Schon im Sommer ist er gefallen.“
Ich schreie: „Das ist ja ein halbes Jahr her. Ein halbes Jahr hat der Bote gebraucht. So lange ...“
Niemand hört mich. Die Mutter liest vor, dass der Vater im Krieg gefallen ist.
Liesel sagt: „Er wollte nicht in den Krieg. Sie haben ihn gezwungen, andere Menschen zu töten. Lass ihn trotzdem in den Himmel kommen.“
Beide weinen stumm und beten. Ich glaube nicht an Gott, aber damals war das wohl so. Inzwischen essen sie ihr karges Abendmahl aus Brot, Wasser und Käse. Dann gehen sie schlafen. Doch ich höre, wie sie noch im Bett darüber reden.
Mir schießen die Gedanken nur so durch den Kopf. Der Bote war so lange unterwegs, um den Brief mit der Todesnachricht zu bringen. So lange mussten sie warten. Und dann vielleicht 10 Sekunden, um den Brief zu lesen, können einen Menschen in Freude oder Trauer versetzen. Auch Angstgefühle, Langeweile oder Mut können hervorgerufen werden. Verliebtheit oder Wut – ganz egal. Und diesmal eben Trauer.
Mein Handy klingelt. Erstaunt tauche ich zurück in die Gegenwart. Meine Mutter steht ein Stück entfernt und sieht mich böse an, weil das Handy klingelt. Schnell gehe ich ran. Es ist meine Freundin aus Hamburg. Ich frage, wie es ihr geht. Sie will mir was total Cooles erzählen.
Ich sage: „Du, später ...“, und lege auf. Das Ganze hat 10 Sekunden gedauert. So schnell, kein halbes Jahr.
Über die Schulter werfe ich einen Blick zurück auf das Bild. Das Mädchen steht noch immer am Fenster – stumm und starr – mit Ölfarbe auf eine Leinwand gebannt. Stumm liest es den Brief. Von dem unheimlichen Zauber ist nichts mehr zu spüren. Schnell wende ich mich ab. Mir ist wirklich unheimlich zu Mute. Ich sehe mir die nächsten Bilder an. Aber bei keinem verspüre ich den Zauber von vorhin.
Sofia Marit Nessing, 11 Jahre


THEO - benannt nach Theodor Fontane

Der THEO-Schreibwettbewerb, benannt nach dem Schriftsteller Theodor Fontane (1819-1898), wird seit 2008 vom Verein Schreibende Schüler e.V. und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels Landesverband Berlin-Brandenburg e.V. ausgerichtet. Teilnehmen können Schülerinnen und Schüler bis zum Alter von 18 Jahren aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Aus den Einsendungen wählt der Verein Schreibende Schüler e.V. zwölf schreibbegabte Schülerinnen und Schüler für den Endausscheid aus. Neun Nominierte für den Bereich Prosa und drei Nominierte für den Bereich Lyrik lesen bei der Preisverleihung ihre Geschichten und Gedichte vor. Eine fachkundige Jury wählt dann die Preisträgerinnen und Preisträger für den „THEO – Berlin-Brandenburgischer Preis für Junge Literatur“ aus. Der Preis wird anlässlich des Welttags des Buches am 23. April verliehen. Die Schirmherrschaft über den THEO haben der Ministerpräsident des Landes Brandenburg Dr. Dietmar Woidke und der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller übernommen.

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