Bericht

Vorleseangebote mehrsprachig gestalten

31.07.2014

Eine Arbeitshilfe für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren




Titelseite der Broschüre
Titelseite der Broschüre
© Verband binationaler Familien und Partnerschaften iaf e.V.
„Mehrsprachige Kinder besitzen einen Schatz, den ihnen niemand nehmen kann und der ihnen im Leben weiterhelfen kann. Die vorliegende Broschüre ist daher auch ein Plädoyer dafür, die Sprachen eingewanderter und mehrsprachiger Familien als wichtiges Bildungspotenzial wertzuschätzen und anzuerkennen“, heißt es im einleitenden Kapitel der Handreichung „Vorleseangebote mehrsprachig gestalten“ des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften iaf e.V. Die 40-seitige Publikation fasst die Erfahrungen aus mehrsprachigen Vorleseprojekten in den Städten Bonn, Duisburg, Frankfurt, Köln und Hannover zusammen. Als praktische Arbeitshilfe bietet sie Informationen und Anregungen für alle, die in Kitas, Schulen und anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe mehrsprachige Vorleseangebote durchführen wollen. Übersichtlich und in ansprechender Form wird erklärt, wie die Angebote organisiert und koordiniert werden können, wie mit Kitas und Schulen kooperiert werden kann und warum es wichtig ist, die Eltern der Kinder zu informieren. Ein Kapitel widmet sich den Anforderungen, die ehrenamtliche Vorleserinnen und Vorleser erfüllen sollten. Es enthält Tipps, wie Vorleserinnen und Vorleser gewonnen und ausgewählt werden können. Ein weiteres Kapitel beschreibt die rechtlichen Rahmenbedingungen für ehrenamtlich Tätige. Über gute Erfahrungen bei der Vorbereitung und fachlichen Begleitung ehrenamtlicher Vorleserinnen und Vorleser wird unter „Qualifizierung und Begleitung“ berichtet.

Wir veröffentlichen nachfolgend mit freundlicher Genehmigung das Kapitel „Vorlesen“ (S. 31-36). Die gesamte Broschüre steht im pdf-Format zum kostenlosen Download zur Verfügung unter: www.verband-binationaler.de

Vorlesen
Einzelne Vorleseeinheiten lassen sich sehr vielfältig gestalten, je nachdem wie sich die Kindergruppe zusammensetzt, welches Buch ausgewählt und mit welchen Methoden gearbeitet wird. Bitte bei aller Vorbereitung nicht vergessen, dass Vorlesen Spaß machen sollte!

Rahmengestaltung
Vorlesen, Geschichten erzählen und Gespräche führen gelingt nur dort, wo man sich konzentrieren kann, sich wohl und aufgehoben fühlt. Eine ruhige Sitz- und Leseecke unterstützt das sich Einlassen auf Bücher. Vorlesen ist etwas Besonderes, es sollte sich herausheben aus dem Kinderalltag. Ein regelmäßiges Angebot unterstreicht die Wichtigkeit des Vorlesens, ein festes Ritual – z. B. eine Handpuppe, die in die Leseecke einlädt – unterstützt seine Bedeutung. Mit einem gemeinsamen Spruch oder einem kurzen Lied in den Familiensprachen der Kinder zu Beginn kann die Kindergruppe sich sammeln und zusammenfinden. Dies gibt ihr das Startsignal für die gemeinsame Lesereise. Zum Abschluss der Vorleseeinheit kann ein Abschiedsritual hilfreich sein.

Je nach Alter der Kinder und Bekanntheitsgrad des Buches sollte das Vorlesen an sich nicht mehr als 20 bis 30 Minuten betragen. Umfangreiche Bilderbuchgeschichten sollten besser in einzelne Folgegeschichten aufgeteilt werden. Die Vorleser/-innen des Verbands binationaler Familien und Partnerschaften lesen meist einsprachig in den Familiensprachen bei den festen Kindergruppen. Die Kinder bekommen dadurch Gelegenheit tiefer in eine Sprache
einzutauchen.

Öffentliche Lesungen werden in der Regel zweisprachig gestaltet mit einem Co-Vorleser/einer Co-Vorleserin. Das Vorlesen erfolgt entweder im direkten Sprachwechsel oder man lässt einzelne Figuren in der anderen Sprache sprechen und gibt so der Geschichte einen eigenen mehrsprachigen Kontext. Mehrsprachiges Vorlesen lädt dazu ein, über die unterschiedlichen Sprachen zu reflektieren, einzelne Worte und Sätze in den Sprachen miteinander zu vergleichen: Was klingt ähnlich, was klingt ganz anders oder wie unterscheiden sich Zeichen und Schrift? Es können auch nur einzelne Elemente der anderen Sprache einfließen, wie z.B. Tiernamen aus der Geschichte in den unterschiedlichen Sprachen zu erfragen und zu benennen.

Auch wenn ein Kind die Vorlese-Sprache nicht versteht, kann das Zuhören spannend sein. Vielleicht versteht es die Handlung allein aufgrund der Bilder, achtet mehr auf Betonung, Sprachmelodie, Mimik oder Gestik und lässt seine Fantasie schweifen. Oder das Kind holt sich Informationen von den anderen Kindern in der gemeinsamen Kommunikationssprache. Sich in einer Situation zurechtzufinden, obwohl man etwas nicht versteht, ist eine wichtige Erfahrung für das Selbstvertrauen des Kindes.

TIPPS:
  • Gehen Sie auf Lieblingsbücher der Kinder ein und wiederholen Sie auf Wunsch auch Geschichten. Erzählen Sie aus Ihrer Kindheit und von Ihren Lieblingsbüchern und -geschichten.
  • Zeigen Sie den Kindern, dass Sie selbst mehrsprachig sind und dies gut finden. Mehrsprachige Schilder und Beschriftungen in der Leseecke zeigen auch visuell die Wertschätzung für Mehrsprachigkeit.
  • Achten Sie darauf, dass Regeln eingehalten werden, z. B. sich gegenseitig ausreden lassen, nicht stören etc.

Bilderbuchbetrachtung und dialogisches Vorlesen
Die Bilderbuchbetrachtung und das dialogisches Vorlesen eignen sich besonders für kleinere Gruppen und jüngere Kinder. Dabei verzahnen sich der schriftliche Text mit der mündlichen Sprache. Das Tempo lässt sich gut variieren. Das Kind kann sich auf das Zuhören und Verstehen konzentrieren oder selbst sprachlich aktiv werden und sich ausprobieren. Die Bilderbuchbetrachtung erleichtert es Kindern, nachzufragen und eigene Erfahrungen einfließen zu lassen. Es erfordert aber von den Vorleserinnen und Vorlesern ein intensives sich Einlassen auf die Kinder und einen sicheren Umgang mit deren mehrsprachigen Fähigkeiten.

Bei einer Bilderbuchbetrachtung sitzen alle eng zusammen, es entsteht eine emotionale Nähe zwischen Kindern, Vorleser/-in und Geschichte. Die Inhalte und Themen der Geschichten unterstützen eine solche Situation oft. Das Bilderbuch wird zum Schauplatz von Freude und Spaß, Wut und Trauer, eigener Identifikation mit den Helden und Figuren der Geschichte.
Für öffentliche Lesungen oder Lesungen vor größeren Gruppen bietet sich die Projektion der Bilder in Form eines „Bilderbuchkinos“ an. Entsprechende Dateien gibt es bei Verlagen, Autorinnen und Autoren oder in Bibliotheken.

Varianten der Bilderbuchbetrachtung
  • Beim Bilderbuchkino projizieren Sie Bilder oder ganze Seiten aus dem Buch an die Wand, betrachten diese wie im Kino und lesen die Textstellen dazu vor.
  • Kniebücher sind großformatige Klappbücher mit Spiralbindung, die Sie auf Ihren Knien stehend den Kindern zeigen und vorlesen.
  • Beim japanischen „Papiertheaterspiel“ Kamishibai schieben Sie in einen zusammenklappbaren, bühnenähnlichen Rahmen Bildtafeln ein und erzählen mit kurzen Texten eine Geschichte. Gut sortierte Stadtbibliotheken verleihen Ausstattungen oder Sie bauen sich selbst ein kleines Kamishibai-Theater: www.kamishibai.com


TIPPS:
  • Erste Bilderbücher – egal in welcher Sprache – sollten überschaubar sein, zum Entdecken und Betrachten einladen und emotional anregend sein.
  • Lesen Sie zur Vorbereitung die Geschichte für sich mehrmals laut vor, bevor Sie den Kindern vorlesen. Überlegen Sie sich Fragen und alternative Handlungsverläufe für die Geschichte und üben Sie den Wechsel der Sprachen, wenn Sie mit Co-Vorleserinnen oder -Vorlesern arbeiten.
  • Achten Sie auf die Mimik und Gesten der Kinder. Sie verraten Ihnen, ob die Geschichte verstanden wird und gefällt.
  • Regen Sie die Kinder durch Fragen oder Impulse dazu an, etwas zu den Bildern und der Handlung zu erzählen. Offene Fragen eignen sich dazu besonders, z. B. Was geschieht hier? Wie geht es wohl weiter?
  • Machen Sie wiederkehrende Wörter und Sätze zu gemeinsamen Textstellen und lassen Sie die Kinder sprachliche Besonderheiten der Geschichte mitsprechen. Dies kann parallel auch mehrsprachig erfolgen.
  • Sie können einzelne Wörter und Begriffe aus dem Bilderbuch in unterschiedlichen Sprachen aufschreiben (lassen) und z. B. als Lesezeichen in das Buch legen oder den Kindern mitgeben.
  • Versuchen Sie Bezüge zwischen der Geschichte und der (mehrsprachigen) Lebenswelt der Kinder herzustellen. Kennen die Kinder ähnliche Situationen?
  • Vertiefen Sie Aspekte der Geschichte durch Nacherzählen oder durch Nachspielen von einzelnen Szenen. Fingerspiele oder Puppen können dies unterstützen.
  • Auch das Malen oder Basteln zur Geschichte vertieft das Gehörte. Ermuntern Sie die Kinder, ihre gemalten Bilder und Bastelarbeiten zu beschreiben und den anderen Kindern zu erklären.
  • Zeigen Sie den Kindern, dass auch Sie sprachlich nicht alles verstehen. Bitten Sie die Kinder, Ihnen zu helfen. Begeben Sie sich in eine lernende Rolle. Dadurch ermutigen Sie die Kinder, ihre Kompetenzen zu zeigen.
  • Zeigen Sie Wege auf, wie sich die eigenen Sprachkompetenzen ausbauen lassen, z.B. durch Wörter erfragen, Nachhaken, Gespräche mit Sprechern dieser Sprache, das Nachschlagen in einem Lexikon oder Wörterbuch usw.

Klassisches Vorlesen
Im Unterschied zur Bilderbuchbetrachtung sollen sich die Kinder hier ganz auf das Gehörte einlassen und nicht von Bildern ablenken lassen. In den Köpfen der Kinder wird ein „Vorstellungsraum“ geschaffen und ihre Fantasie angeregt. Es geht auch um den „Unterhaltungswert“ der gehörten Geschichte: Sie erzeugt Spannung und Dramatik und nimmt die Kinder emotional mit auf die Lesereise.

Diese Art des Vorlesens gelingt auch mit einer größeren Gruppe gut. Empfehlenswert ist ein Sitzkreis, so dass die Vorleser/-innen immer Blickkontakt mit den Kindern aufnehmen können.

TIPPS:
  • Erarbeiten Sie das Buch/die Geschichte zunächst für sich selbst, damit Sie mit Text, Sprache und Inhalt gut vertraut sind.
  • Nutzen Sie insbesondere Ihre sprachlichen Ausdrucksmittel:
    • Variieren Sie Ihre Stimme: laut oder leise, schnell oder langsam, bestimmend oder ängstlich, wütend oder sanft usw.
    • Betonen Sie Passagen der wörtlichen Rede.
    • Setzen Sie Pausen oder wiederholen Sie einzelne Passagen, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen.
  • Setzen Sie Gestik und Mimik ein, um die Geschichte zu unterstreichen. Aber übertreiben Sie nicht dabei, das wirkt unglaubwürdig.
  • Beim zweisprachigen klassischen Vorlesen ist es wichtig, dass die Passagen in den einzelnen Sprachen nicht zu lang sind, damit Sie die Spannung und das Interesse am Text bei allen Kindern aufrechterhalten können. Sind die Zuhörer/-innen mehrsprachig, können Sie die Geschichte auch fortlaufend abwechselnd in zwei Sprachen erzählen.
  • Verändern Sie den Text nicht. Auch komplexe Texte haben ihre Bedeutung und eine tragende Wirkung. Wenn die Kinder Passagen nicht verstehen, dann können Sie nach dem Vorlesen nochmals darüber reden und diese in der anderen Sprache näher erklären.

Geschichten erzählen
Die wohl bekannteste Form des Erzählens ist das Märchenerzählen, sie kommt dem klassischen Vorlesen am nächsten. Märchen sind ein gutes Beispiel dafür, wie
eine Geschichte funktioniert. Sie haben eine Einleitung, die den Ort, die Zeit, die Akteure und das Handlungsfeld einführt. Das Fortschreiten der Handlung folgt einem Spannungsbogen, immer wieder sind Herausforderungen zu bewältigen. Der Schluss liefert dann eine Auflösung und ein emotional entlastendes Ende.
Märchen sind in einen historischen oder Fantasiekontext eingebunden, der sich deutlich vom Kinderalltag unterscheidet. Sie benutzen ritualisierte Einstiegs- und Schlussformeln, die auch kultur- und sprachenübergreifend nutzbar sind, z.B. „Es war einmal vor langer Zeit ...“ oder „und wenn sie nicht gestorben sind, ...“. Beim Erzählen hält man zwar kein Buch in den Händen, stützt sich aber auf ein fiktives Geschichtenbuch, das in der Erinnerung sehr wohl existiert.

Auch wenn Kinder die Erzähl-Sprache nicht so gut beherrschen, können sie die Regelhaftigkeit erkennen, denen eine Geschichte folgt. Daraus können sie vieles ableiten und die emotionale Situation des Erzählens genießen.
Eine hohe Erzählkunst ist es, zweisprachig in zwei Rollen zu erzählen und der gesamten Geschichte einen mehrsprachigen Kontext zu geben. Dies erfordert viel Übung und erzählerisches Talent.
Einige Vorleser/-innen haben eine besondere Vorliebe und ein besonderes Talent für diese Form der Weitergabe von Geschichten. Sie eignet sich auch für mündliche Überlieferungen und für gesprochene Sprachen.

TIPPS:
  • Wählen Sie zum Einstieg ins Erzählen eine einfache Geschichte aus, die universell verständlich ist.
  • Halten Sie sich an Struktur und Ablauf der Geschichte, das erleichtert Kindern das Verständnis.
  • Heben Sie wichtige Handlungen und Szenen durch Gestik und Mimik hervor.
  • Verwenden Sie Redewendungen und „Formeln“ als Gerüst. Formeln, die immer wieder in der Geschichte auftauchen sind z.B. „Dann machte sich der Junge wieder auf den Weg ...“.
  • Wiederholen Sie zentrale Aussagen und Textpassagen.

Autorinnen:
Michaela Schmitt-Reiners, Maria Ringler, Januar 2014

Herausgeber:
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