
Deutschlandfunk und Deutscher Philologenverband ehrten Lyriktalente |
29.06.2012 |
Die Gedichte der »lyrix«-Preisträger 2011
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Preisverleihung im Palais am Funkturm* © Deutschlandradio/Annemarie Bütow |
Die Preisverleihung am 8. Juni 2012 auf der Jugendmesse YOU war ein Höhepunkt der literarischen Berlinreise. Dr. Thomas Greiner vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) würdigte in seinem Grußwort den Mut der jungen Poetinnen und Poeten, persönliche Gedanken und Wünsche in Gedichten zu formulieren und sich dem Urteil einer Expertenjury zu stellen. „Die Wettbewerbsbeiträge zeigen, was herauskommen kann, wenn Lyrik ernst genommen wird“, freute sich Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Slam-Poet Bas Böttcher erfreute die Preisträger und Gäste mit einigen Kostproben seiner Kunst.
Die Gedichte der lyrix-Preisträger 2011 in alphabetischer Reihenfolge:
Ein schmaler Pfad führt
durch die Dünen
nur Sand und Eis
Schnee und Meer
Tausend Edelsteine glitzern
unter meinen Füßen
und wie Glas zerbricht
das Eis, Kristalle zerspringen
Ich seh das Ende der Welt
fühle das Ende der Zeit
laufe soweit die Beine tragen
höre endlich auf zu warten
Vergesse mich, vergesse dich
und versinke im Grund
das Universum ist gebrochen
ich tus ihm gleich
Autorin: Saskia Balser aus Ranstadt, St. Lioba Schule
Jahrgangsstufe 11
»lyrix«-Monat: November/Dezember, Leitmotiv: im Schnee
Hafengraffiti (Dual)
Da ist ein Hafen
Und da sind
Füße und Segel und Söge
Die ziehn mich und zögen noch ewig,
das weiß ich, wenn ich nicht -
halt.
Da ist ein Hafen
Da sind
Taue und Tauben und Teer.
Schlick ist und Luft und Geruch und
Blei.
Eintopf und Duft mit Graffiti und Straßenkreide
Ich bleibe hier ewig
Wenn ich nicht -
geh.
Renn. Das Wachs in den Venen wird kalt
Wir müssen hier weg, wir müssen doch -
Halt.
Da bin ich.
Was wär ich?
Wenn ich nicht -
Wehr' ich mich?
geh!
halt.
Gib halt.
Lauf weiter, veranker mich, geh.
renn los und bleib stehen.
Vergeh nicht.
Bleib ewig.
Verweh mich.
Ich sehne mich
Sehe mich
Und da ist ein Hafen.
Was werde ich?
Autorin: Josefine Berkholz aus Berlin, Romain-Rolland-Oberschule
Jahrgangsstufe 12
»lyrix«-Monat: Juli/August, Leitmotiv: Lebensräume - Drinnen und Draußen
Das Glasfenster
oh wie trügerisch
der Anblick in die weite Ferne
grüne Bäume, hohe Felsen
du über ihnen
stehend auf Glas
rundherum Glas
unter dir, in die Tiefe
etliche Schichten von glasklarem
Glas
aber kein Grashalm ist mehr zu sehen
keine Bewegung -
sonst machst du was kaputt
keine Berührung -
sonst machst du etwas dreckig
kannst du es nicht genießen? den schönen Ausblick,
das unbeschwerte Atmen - nirgendwo ist ja ein
Windhauch
die Ruhe wegen der Stille
und die Aufmerksamkeit von allen, weil sie
darauf warten, was du machst
es sind die, die noch Farbe haben
und deswegen nicht zu Glas wurden
sie spielen dir den Ball zu
ein echter Ball
schwarz und weiß
aus echtem Leder
schön zu spielen, hart im Schuss
annehmen kannst du ihn
schieße ihn, zerbreche das Glas
laufe dem Ball hinterher
lasse dich fallen
vielleicht fängt der Baum dich auf.
Autorin: Bettina Diller aus Kranzberg, Berufsschule für Informationstechnik München
Jahrgangsstufe 10
»lyrix«-Monat: Jului/August, Leitmotiv: Lebensräume - Drinnen und Draußen
Entrostungsmittel und Ordnung
Der rostige Wasserhahn im Garten.
er war perfekt.
eigen und störrisch und unzuverlässig.
aber perfekt.
perfekt und liebenswert.
Wir wuschen unsere matschigen Räuberhände unter ihm
und ließen feuchte Erde als Souvenir.
machten rot zu braun
und ließen ihn Wasser und Lachen husten.
Der alte Spermüllhaufen hinterm Haus.
er war perfekt.
chaotisch und kantig und aggressiv.
aber perfekt.
perfekt und liebenswert.
Wir ließen ihn Kulisse für Ritterspiele sein
und formten ihn zu Höhlen und Schlössern.
spannten Decken zwischen ihn und den Himmel
und ließen ihn Zeuge von Mord- und Liebesszenen werden.
Und dann kam jemand mit Entrostungsmittel und Ordnung
lies unser Lachen recyclen und verschenkte unsere Geschichten.
zuverlässigkeit statt Dreck und Platz statt Kreativität.
Er nahm uns das Leuchten weg an das wir uns klammerten.
Und das Lachen.
Und das Strahlen in den Augen.
tauschte unsere Kindheit gegen Sauberkeit
Autorin: Johanna Fugmann aus Memmelsdorf, Dientzenhofer-Gymnasium Bamberg
Jahrgangsstufe 9
»lyrix«-Monat: März/April, Leitmotiv: Es ist alles eitel
Stadtparksommer
in den stamm der alten eiche ritzten wir lügen und verankerten sie tief
im wurzelwerk als der sommer sich in in unsere lider brannte seine
grünen tage ins straßennetz schickte
wir leckten die strahlen von einander ab bis wir ausgehöhlt in den
windmeeren trieben ließen uns von grasgrillenmelodien tragen die selbst
das alltagsrauschen ausblendeten
schattenspiele sprenkelten deine helle haut jagten ihre muster von
deinem mundwinkel bis zu meinen prickelnden fingerkuppen und
gruben sich tief in meine fersenwege hinein
die stunden in diesem hibiskusrausch
ließen uns wohl glauben wir wären
winterlos
Autorin: Sophie Garbe aus Tübingen, Uhland-Gymnasium
Jahrgangsstufe 12
»lyrix«-Monat: Mai/Juni, Leitmotiv: Natur gestern und heute
pathos
wir lassen melodieballons in die finsternis steigen
sitzen singend am abgrund und riechen das ende
wir waren nie furchtloser und schöner als jetzt
denn du siehst in meinen augen zwei welten
und in meiner pupille den nächsten kontinent
auf den wir entkommen wenn alles verglimmt
unsere figuren sind nur alternde hülsen die
in überhitzten städten und auf leblosen fernstraßen
liebe suchen : um sich unsterblich zu machen
um nicht wie klang im lärm zu zerplatzen
nimmst du mich an der hand und wir laufen
gegen den fluchtstrom direkt ins inferno
wo wir endlich zusammenschmelzen
und uns jede ewigkeit lebendiger macht
Autorin: Christiane Heidrich aus Vaihingen/Enz, Friedrich-Abel-Gymnasium
Jahrgangsstufe 11
»lyrix«-Monat: September/Oktober, Leitmotiv: Unsterbliche Liebe
Erste Liebe
Mohnfelder im Gegenlicht.
Chromatik der Dämmerung.
Zitternde Wörter
im Sommerwind.
Pusteblumensamen
zwischen den Zähnen.
Ab und zu
synchroner Sternensturz
am Firmament.
Einen Herzschlag lang, Zögern.
Die Lippen finden sich
im Lichterdecrescendo.
Autorin: Larissa Hieber aus Schwäbisch Gmünd, Hans-Baldung-Gymnasium
Jahrgangsstufe 12
»lyrix«-Monat: Mai/Juni, Leitmotiv: Natur gestern und heute
Verlockender Schnee
Ziehe mir meine Stiefel an
Streife mir meine Winterjacke über
Und gehe hinaus
Vor mir
Liegt eine weiße Welt
Jetzt kommt die Sonne durch die Bäume hindurch
Erwärmt die weiße Welt
Jetzt glitzert der Schnee
Ich gehe einen Schritt vorwärts
Und sehe meinen glitzernden Fußabdruck
Nun da alles mit Schnee bedeckt ist
Sind die Bäume
Nur noch wenig braun
Die Blätter sind schon abgefallen
Und jetzt stehe ich unter einem weißen Geäst
Ich lege mich in den Schnee
Und versinke in dem weißen, weichen Puder
Der Schneeengel den ich gemacht habe
Wird wieder von neuem Schnee verdeckt
Ich will die weiße Welt nicht verlassen
Doch ich gehe nach Hause
Ziehe mir meine Stiefel aus
Streife mir meine Winterjacke ab
Und versinke in den weichen Kissen meines Bettes
Autorin: Lena Marie Hinrichs aus Wentorf bei Hamburg, Hansa-Gymnasium Hamburg-Bergedorf, Jahrgangsstufe 6
»lyrix«-Monat: November/Dezember, Leitmotiv: im Schnee
Fossil
Es ist kalt hier
und zwischen uns
rostet die Luft
von Lunge zu
Lungenflügel schlagen
im Endlos-
takt der Tropfsteinhöhle.
Sperr das Licht aus die
Sonne zersetzt uns
nur das versteinerte
für immer
wird von unseren Zähnen fallen
wie Staub.
Autorin: Roberta Huldisch aus Berlin, Schiller-Gymnasium Berlin
Jahrgangsstufe 12
»lyrix«-Monat: September/Oktober, Leitmotiv: Unsterbliche Liebe
die natur des menschen
die lunge der welt wird höchstbietend versteigert das kettensägenrasseln
nicht ernst genommen
solange die tulpen noch puls haben
und duften und leuchten
will ich strahlen
manchmal erfasse
ich flakongeruch zwischen ihnen
solange sich noch regenbögen
zwischen den verrußten schloten spannen
will ich staunen
manchmal habe
ich angst sie zerbrechen einfach
solange die evolution
nicht ihr ganzes buntes federkleid verliert will ich hoffen manchmal sehe
ich uns schon als nackte vögel
und der himmel in den wir fliegen
flammt auf
Autor: Jonas Kohnen aus Ludwigshafen, Heinrich-Böll-Gymnasium Ludwigshafen
Jahrgangsstufe 13
»lyrix«-Monat: Mai/Juni, Leimotiv: Natur gestern und heute
An der Straßenecke
Der Mann an der Straßenecke.
Du hast ihm einen Mitleidseuro
In sein Leben geschmissen
Und nicht verstanden,
Dass er dich
Angelächelt hat.
Der Alte an der Straßenecke.
Du hast im Vorbeigehen
Den Kopf geschüttelt
Und nicht verstanden,
Dass er sich von da unten
Die Schönheit der Welt ansieht.
Der Penner an der Straßenecke.
Du hast sein Fleckchen Welt
Mit Blicken beschmiert
Und nicht verstanden,
Dass er dort
Alltagswunder aufbewahrt.
Der Künstler an der Straßenecke.
Du hast ihn mit Gedanken
Bespuckt
Und nichts verstanden.
Autorin: Anna Neocleous aus Rietberg, Gymnasium Nepomucenum Rietberg
Jahrgangsstufe 13
»lyrix«-Monat: Januar/Februar, Leitmotiv: Alles über den Künstler
Dorfdisko
Schwer liegt um uns die unsichtbare Schlinge
des leeren Lärms. Mein Brustbein pocht im Takt.
Du lachst, ich schaue weg. Drei Silberringe
durchbohren weißes Fleisch. Du trägst es nackt.
Die Nacht will deine Engelsflügel spreiten,
doch stolperst du und fällst. Dein Blick bleibt starr.
Mein Ich verhandelt sorgsam Eitelkeiten
und Schatten stellen Schreckfiguren dar.
Ich spreche zynisch, doch meist unverständlich,
erweise mich als müder Misanthrop,
der lieben will. Noch scheint die Zeit unendlich.
Durch dumpfes Schwarz blitzt scharf ein Stroboskop.
Du beugst dich vor und beugst dich immer weiter
zu mir. Flüchtiger Kuss: entschämtes Glück
der Zweisamkeit. Auf meinen Lippen bleibt der
Geschmack von Salz und Alkohol zurück.
Autorin: Maren Ochs aus Öhringen, Hohenlohe-Gymnasium Öhringen
Jahrgangsstufe 13
»lyrix«-Monat: März/April, Leitmotiv: Es ist alles eitel
Wintersucht
ich greife immer wieder nach
schneeengelzeichen wenn die
luft schweigsam eingehüllt ihr winter-
lied summt und kälte in groß-
buchstaben an die berge
projiziert und mir sanft lebkuchen-
duft auf die lippen küsst
sei mein zimtsternwintertee
wenn schneespurengeflüster
verführerisch an die fenster klopft
aber du fehlst du fällst du
wickelst mich in eine decke
aus schnee wiegst meine fantasie
in sonnenstaub nur kurz
noch kurz bis ich glasstarr
und eisklar meine arme
um schneeengel werfe
Autorin: Benita Salomon aus Schriesheim, Kurpfalzgymnasium Schriesheim
Jahrgangsstufe 12
»lyrix«-Monat: November/Dezember, Leitmotiv: im Schnee
»lyrix«-Jury 2011
Malte Blümke - Deutscher Philologenverband
Norbert Hummelt - Lyriker
Dr. Ulrich Janetzki - Geschäftsleiter des Literarischen Colloquiums Berlin
Manfred Metzner - Verleger (Das Wunderhorn)
Dr. Matthias Sträßner - Hauptabteilungsleiter Kultur des Deutschlandfunks
Uljana Wolf - Lyrikerin
»lyrix« - Schülerwettbewerb für Dichter mit Klasse
Der bundesweite Schülerlyrikwettbewerb »lyrix« wurde 2008 vom Deutschlandfunk und dem Deutschen Philologenverband initiiert. Schirmherrin ist die Bundesbildungsministerin, Prof. Dr. Annette Schavan. Mit zahlreichen Schreibwerkstätten sowie Lesungen auf Buchmessen und Literaturveranstaltungen hat sich »lyrix«in den vergangenen Jahren als bedeutsamer Literaturwettbewerb etabliert. „Der Wettbewerb leistet einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen und fördert Phantasie und Kreativität“, so Schirmherrin Annette Schavan. Teilnehmen können Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 bis 13. Mehr Informationen zu »lyrix« unter www.deutschlandradio.de/lyrix
* Auf dem Foto von der Preisverleihung im Palais am Funkturm sind zu sehen:
Hintere Reihe v.l.n.r.: Dr. Thomas Greiner (BMBF), Heinz-Peter Meidinger (Deutscher Philologenverband), Josefine Berkholz, Johanna Fugmann, Ralf Hoffmann (Jury-Mitglied, Verlag Das Wunderhorn), Anna Neocleous, Bettina Diller, Larissa Hieber, Saskia Balser, Benita Salomon, Jonas Kohnen, Christian Sülz (Deutschlandradio)
Vordere Reihe v.l.n.r.: Leonie Paschke (Deutschlandradio), Malte Blümke (Friedrich-Bödecker-Kreis), Christiane Heidrich, Sophie Garbe, Maren Ochs, Lena Marie Hinrichs
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